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Archiv-Artikel

Patriarchale Strukturen

betr.: „Es sind verlorene Söhne“, Interview mit Necla Kelek, taz vom 23. 9. 05

Sind das wirklich spezifisch muslimische Probleme? Übersehen auch wir „deutschen Deutschen“ mit unseren nostalgischen Sehnsüchten nach der „guten alten Großfamilie“ nicht deren patriarchale Strukturen? Und was bedeutet die jetzt allseits geforderte „Stärkung der Familien“ wenn vor allem Frauen (auch muslimische) wieder gesellschaftlich entindividualisiert werden, indem man sie nach Hartz IV ganz offiziell der finanziellen „Fürsorge“ ihrer Ehemänner, Eltern oder männlichen Freunde und Mitbewohner anvertraut, ihnen sogar noch die engen Wege staatlichen „Förderns und Forderns“ verschließt? Wir sollten zu einer Politik zurückfinden, die die persönliche Freiheit und Eigenverantwortung aller in Deutschland lebenden Menschen stärkt.

Natürlich darf es nicht hingenommen werden, dass Mädchen heute noch in Zusammenhängen aufwachsen müssen, die mich manchmal an die muffigen Verhältnisse meiner eigenen Kindheit erinnern, in denen Ehemänner sich noch schämten, wenn „ihre“ Frauen überhaupt erwerbstätig waren, in denen die Männer über Politik sprachen, nachdem die Frauen den Tisch abgeräumt hatten und in der Küche verschwunden waren, und in denen die Töchter auch nicht gerade zu perspektivischen Höhenflügen ermutigt wurden.

Doch wie können wir zu einer gemeinsamen und eben doch multikulturellen Gesellschaft finden, die ihren christlichen und muslimischen und atheistischen und buddhistischen und männlichen und weiblichen und anderen Mitgliedern ein weitgehend emanzipiertes, selbstbestimmtes Leben ermöglicht? Natürlich müssen wir die Grenzen gesellschaftlicher Toleranz klar benennen und strafrechtlich schützen: Mord, Totschlag, Freiheitsberaubung, Nötigung sind strafrechtliche Tatbestände, und „körperliche Züchtigung“ wird zum Glück auch nicht mehr akzeptiert. Ansonsten können wir doch „nur“ auf eine Verstärkung von Integrationsangeboten setzen – sage keiner, es gebe genug! Jede und jeder Einzelne, die/der sich Diskriminierungsversuchen (auch innerhalb der eigenen Familie) widersetzt, muss wissen, dass und wo sie/er Unterstützung findet.

Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass es viele, fast immer steinige und mühsame, aber eben individuell verschiedene „Wege der Freiheit“ gibt – einen davon hat meine Freundin beschritten: Sie trägt als junge Muslima das Kopftuch, was ich zwar nicht wirklich verstehe, aber respektiere, da sie es „aufrecht“, aus eigenem erklärtem Willen trägt und weil sie selbst ihren Respekt und ihre Sympathie oder Antipathie anderen gegenüber nicht von „Kleiderregeln“ abhängig macht. Auch blickt sie jedem Mann (ob „türkisch“ oder „deutsch“) in die Augen und wird im nächsten Sommer endlich den Mann heiraten, den sie liebt. Ihr Verlobter ist ein gläubiger und trotzdem aufgeschlossener Muslim, der weder seine Frau noch seine Töchter einsperren wird.

Schade nur, dass meine Freundin nach ihrem Studium der Sozialpädagogik (ein weiter Weg, nicht nur wenn man aus einer Kleinbauernfamilie vom Schwarzen Meer stammt) einfach keine Arbeit in unserem gemeinsamen Land findet – es könnte sie so gut brauchen!

KARIN RIESLER,Hamburg