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Archiv-Artikel

Ein heuchlerisches Gemeinwesen

ZÜRICH GEWINNEN Für Theaterintendanten ist die Stadt Zürich ein kompliziertes Pflaster. Barbara Frey sucht mit Kapitalgeschichten, jungen Autoren und allegorischen Installationen einen Neuanfang am Schauspielhaus

VON JÜRGEN BERGER

Originell ist der Selbstmordversuch schon. Simon stellt sich während eines Gewitters ganz einfach in einen Waldsee, der Blitz allerdings verschmäht ihn, während sein Bruder am Ufer mit einem Kotflügel unter dem Arm auf ihn wartet. Das hat was skurriles, obwohl der eine todkrank und der andere mit der Pflege des Bruders überfordert ist. Entsteigt in der Waldklause der Brüder dann auch noch eine gewisse Elsie klatschnass einer Standuhr, dann weiß man: hier schätzt eine Autorin das Märchen und den schwarzen Humor.

Wechselweise verführt und sediert die quirlige Elsie die Brüder, wirkt dabei aber immer noch unterfordert. Dieses Schneewittchen der Generation Praktikum könnte ganz nebenbei auch noch bei den sieben Zwergen in den Züricher Bergen hospitieren. Bevor es allerdings dazu kommt, ist das schmale Stück der 24-jährigen Anne Nather, die sich derzeit in Berlin dem Studium des szenisches Schreibens widmet, auch schon wieder vorbei.

Zur Uraufführung kam „Im Wald ist man nicht verabredet“ jetzt in Zürich, wo Barbara Frey seit Beginn der Spielzeit als neue Intendantin das Schauspielhaus leitet. Regie führte Daniela Löffner, die Nathers Text energisch belebt und sich von Claudia Kalinski einen Wald bauen ließ, der wirkt, als habe man ihn gerade zubetoniert. Ausgestopfte Waldtiere stehen im Raum, die Jirka Zett immer mal neu arrangiert. Er ist als Anton einmal mehr ein nervöser und etwas schüchterner junger Mann, wie er das schon als leidender Jungliterat Kostja in Jürgen Goschs Berliner „Möwe“ war.

Haltet die Märchenfee

Markus Scheumann umgibt sich als todgeweihter Simon mit einer düsteren Aura, während Lilith Scheumann eine derart naiv-durchtriebene Elsie ist, dass man die kokette Märchenfee den Zürichern ans Herz legen und ihnen raten möchte, sich derartiges Schauspielpotenzial möglichst lange zu erhalten.

Notwendig könnte das insofern sein, als das Züricher Schauspiel mit der Uraufführung von Anne Nathers brüchigem Stück nicht nur etwas gewagt hat, sondern auch ansonsten in unruhigen Zeiten lebt. Man muss sich wohl damit abfinden, dass der Verwaltungsrat der renommiertesten eidgenössischen Sprechbühne mit bestechender Schweizer Präzision immer wieder alles in Frage stellt, was er sich zuvor ausgedacht hat. Das hat zu einem rasanten Wechsel der Intendanten geführt. Christoph Marthaler etwa bekam zu seinem Start im Jahr 2000 mit dem grandiosen Schiffbau zwar eine der schönsten neuen Bühne geschenkt, musste nach gerade mal vier Spielzeiten aber schon wieder gehen. Matthias Hartmann, der das Schauspielhaus zur Spielzeit 2005/06 übernahm, bandelte schon nach kurzer Zeit mit Wien an.

Jetzt geht es mit Barbara Frey einmal mehr mit einer gebürtigen Schweizerin weiter, die mit einem auf dem Papier spannenden Spielplan für ihr Theater wirbt. Überraschend ist zum Beispiel, dass Sasha Waltz künftig ein zweites Tanzstandbein in Zürich haben wird. Gerade gastierte ihr Ensemble mit „Körper“, eine Uraufführung folgt 2010. Gleich zu Beginn der Spielzeit konnte man dagegen sehen, wie das mit der Papierform und der Bühnenrealität so ist. Barbara Frey zeigte ihre erste eigene Inszenierung in der aus Kostengründen inzwischen in Frage gestellten Schiffbauhalle. Sie war wohl auch selbst nicht damit glücklich, dass Schillers „Maria Stuart“ wie ein zu klein geratenes Kammerspiel in der großen Halle wirkte. Sie hatte wohl die Dimensionen der Spielstätte unterschätzt, während Stefan Kaegi am Tag darauf den Unterhaltungswert einer Installation mit Insekten überschätzte, die für die Gefräßigkeit der Totengräber des globalen Finanzsystems stehen.

Knabbern am Kapital

Es ging um knapp zehntausend afrikanische Wanderheuschrecken, die der Rimini-Protokollant in einem schlauchförmigen Treibhaus ausstellte. Die Knabbertierchen machten das gar nicht mal so schlecht. Problematisch waren eher die Experten, die Wissenswertes aus dem eigenen und dem Leben der Insekten zum Besten gaben. Kaegi tanzt derzeit wohl auf zu viel Hochzeiten, während Stefan Bachmann nach seiner Regieauszeit anscheinend immer noch so ausgeruht ist, dass ihm mit der Adaption von Gottfried Kellers „Martin Salander“ die Überraschung der Spielzeiteröffnung gelang.

Kellers später Roman ist etwas dröge, aber insofern doch spannend, als er anhand des mehrmals um sein Geld betrogenen Salander die ewige Wiederkehr von Geldanhäufung und -vernichtung vorführt. Thomas Jonigk hat aus dem Roman eine prima Spielvorlage destilliert und Stefan Bachmann das Ganze wie einen Marthaler-Abend in die Fünfzigerjahre verlegt. Ganz nebenbei zeichnete sich mit dieser „Salander“-Adaption auch eine thematische Linie ab. Zusammen mit Kaegis „Heuschrecken“ und Sebastian Nüblings speziell auf die Schweiz zugeschnittener Aktualisierung von Gogols „Revisor“ widmet das Schauspielhaus sich dem großen Thema der global überhitzten Waren- und Finanzmärkte.

Tanz der Angst

Nübling legte Gogols russische Parabel als Angstchoreografie eines heuchlerischen Gemeinwesens an, in dem jeder wie gewohnt weitermachen will, obwohl alle wissen, dass das so nicht mehr geht. Da Nübling die kleinstädtischen Heuchler auch noch unterschiedliche Färbungen des Schwyzerdütsch auskosten ließ, gelang ihm über weite Strecken eine tänzerische Spiegelung des Finanzplatzes Schweiz. Mit so unterschiedlichen Handschriften könnte das weitergehen mit dem Züricher Schauspiel, falls der Verwaltungsrat irgendwann nicht doch wieder ganz andere Pläne hat.