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Archiv-Artikel

In taumelnden Kurven

KUNST Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt in einer Retrospektive die Kontinuitäten in Frank Stellas Werk von 1958 bis heute

Stellas Kunst sei so etwas wie die Fortsetzung der Ornamentik, in der die Abstraktion schon vor der Moderne ihren künstlerischen Ursprung hat

VON RONALD BERG

Nichts als schwarze Streifen mit Anstrichfarbe auf Leinwand gebracht und eine fast fünf Meter hohe, in taumelnde Kurven geschnittene Sperrholzkuppel, die mit drei halbkugeligen Füßen auf dem Boden steht: Dass beide Kunstwerke von ein und demselben Mann stammen sollen, will man kaum glauben. Aber es stimmt: Der Amerikaner Frank Stella hat zu Beginn seiner Karriere Ende der fünfziger Jahre minimalistisch gemalt und ist rund ein halbes Jahrhundert später bei architekturartigen Objekten gelandet, die ohne die Hilfe eines Computers als Entwurfsinstrument gar nicht denkbar wären.

Gegen den Illusionismus

Im Kunstmuseum Wolfsburg wird Frank Stella nun nachträglich zum 75. Geburtstag im letzten Jahr mit einer opulenten Retrospektive geehrt. Es sei „der ganze Stella“ zu sehen, freut sich Museumsdirektor Markus Brüderlin: Die 63 zum Teil riesenhaften Gemälde und Wandobjekte füllen die fabrikähnliche Ausstellungsfläche des Museums komplett aus.

Stella wird dem Publikum in Wolfsburg als „letzter lebender Held der amerikanischen Malerei der 1950er- und 1960er-Jahre“ vorgestellt. Heldenruhm hat sich Stella bereits ganz am Anfang seines Schaffens erworben. Und zwar mit jenen „Black Paintings“, die nur aus schwarzen Pinselstreifen bestehen und den dazwischen stehen gebliebenen Linien der rohen Leinwand. Mit diesen zwei Elementen und dem Werkzeug aus seinem damaligen Job als Anstreicher – 2-Zoll-Pinsel und Anstrichfarbe – ging Stella daran, der abendländischen Malerei endgültig den Illusionismus auszutreiben. Was auf den Bildern bleibt sind Streifenmuster, manchmal rautenförmig, manchmal rechteckig ineinander gestellt. „What you see is what you see“, lautet Stella lakonischer Kommentar zu seinen Bildern. Was konnte jetzt noch kommen?

Das eigentlich Besondere, Verblüffende und vielleicht Heroische ist nun, dass Stella dieses Ende der Malerei zu einem neuen Anfang macht. Denn der kleine bildliche Rest der Muster wirft jetzt neue Fragen auf. Mit den Streifen ist nämlich das Figur-Grund-Problem gar nicht gelöst, und die Raumillusion, die aus der Malerei eskamotiert werden sollte, schon wieder im Bild.

In Wolfsburg kann man die folgende Entwicklung Stellas anhand vieler Schlüsselwerke nachvollziehen. Anfang der sechziger Jahre vollzieht Stella den ersten Schritt zum Aufbruch des Bildes in den Raum. Zunächst betrifft das nur die Bildkanten, die bei seinen „Shaped canvases“ der Binnenstruktur der Bildmuster und später den immer komplexeren Verschlingungen der gemalten Farbstreifen folgen. Plötzlich gibt es zudem nicht nur wieder Räumlichkeit, sondern sogar so etwas wie ein dramatisches Geschehen im Bild, aufgeführt durch die Spannung von Farben und Formen, die sich gegenseitig zu durchdringen oder gar zu bekämpfen scheinen.

Und wieder geht Stella einen Schritt weiter. Waren die Bildumrisse nun schon das Ergebnis des Bildinhalts, so ist es eigentlich konsequent, die Bildformen aus der Bildebene heraus auch in den Raum wachsen zu lassen. Ab Anfang der siebziger Jahre passiert genau das. Zunächst noch eher zaghaft wandelt sich das flache Bild zur reliefartigen Bildcollage.

Wild-amorphes Geschlinge

Und so geht Stella Schritt auf Schritt scheinbar logisch und konsequent auf seinem Weg, die Probleme, Fragen oder Möglichkeiten, die jede seiner vorgegangenen Bildserien aufwirft in einer nächsten zu verarbeiten. So treten in die zunächst nur zackigen Bildcollagen bald kurvige Formen, zur monochromen Oberfläche der einzelnen Bildteile kommen handschriftliches Gekrakel und netzartige Strukturen, dann kulminiert alles in einem wild-amorphen Geschlinge. Schließlich setzt Stella in den achtziger Jahren noch illusionistisch gezeichnete „Cones and Pillars“ ins Bildgeschehen. Der physisch-materielle Raum der Collagen beherbergt nun zugleich einen illusionistischen Raum. Anything goes? Fast. Denn irgendwie kann sich Stella nicht ganz dazu entschließen, das Tafelbild und seine Beziehung zur Wand aufzugeben.

Anfang der neunziger Jahre entwirft Stella für das Sammlerehepaar Hoffmann ein ganzes Museum. Doch der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf verhindert die Realisierung in Dresden. Dabei wären die amorphen pavillonartigen Architekturgebilde, die in der Wolfsburger Schau im Modell zu sehen sind, stilistisch gar nicht so weit vom benachbarten Rokokodekor des Dresdner Zwingers entfernt gewesen, wie es den Anschein hat.

Genau das ist die originelle These von Markus Brüderlein. Stellas Kunst sei so etwas wie die Fortsetzung der Ornamentik, in der die Abstraktion schon vor der Moderne ihren künstlerischen Ursprung hat. Zum Beleg dieser These wird die Stella-Retrospektive von einer Ausstellung zur Geschichte der Ornamentgrafik vom 15. bis 18. Jahrhundert aus Beständen des Braunschweiger Herzog Anton Ulrich Museums begleitet. Die dieser Präsentation vorangestellten 82 Stella-Zeichnungen funktionieren wie eine Gelenkstelle zwischen beiden Ausstellungen. Tatsächlich sind die formalen Ähnlichkeiten zu Stellas Bilderkanon bei Arabesken und Grotesken, bei Bandel-, Schweif-, Roll- und Knorpelwerk von so prominenten Künstlern wie Dürer, Piranesi oder Watteau verblüffend. Manch Vasenhenkel aus der Renaissance und manch eine Vorlage für Beschläge oder Kartuschen aus dem Barock sieht wie die Vorwegnahme der Formerfindungen von Stella aus. Umgekehrt wirkt inzwischen vieles bei Stellas selbst ornamental, dekorativ und manieriert, vor allem seine vielgestaltigen, bunt-farbigen und aus heterogenen Materialien zusammengebastelten Arbeiten nach der Jahrtausendwende.

Mit der Übersetzung seiner Formen in echte Architektur hat es bei Stella bislang allerdings noch nicht geklappt. Vielleicht weil die permanente Entgrenzung der Kunst, mit der Stella das modernistische Avantgardeprinzip durchaus fortsetzt, hier durch die Zwänge der Funktion zum Erliegen käme? Ist Stella also womöglich wieder einmal an ein Ende gelangt?

■ Bis 20. Januar bzw. bis 6. Januar 2013 (Ornamentgrafik), Kunstmuseum Wolfsburg, Katalog 42 Euro