: Ein Wattestäbchen auf Kanalreise
Jeder Einwohner Berlins produziert am Tag 118 Liter Abwasser. Zwar nimmt der Verbrauch seit Jahren ab, der Wasserpreis aber steigt stetig. Denn die Instandhaltung der Infrastruktur ist teuer. Ein Lehrstück über die Arbeit mit der übel riechenden Brühe
VON TANIA GREINER
9.32 Uhr, Anfang Wurzeleinwuchs. 9.35 Uhr, Ende Wurzelballen. 9.40 Uhr, Hausanschluss. Dietmar Woitinek blickt konzentriert auf Kanalwände. Zentimeter um Zentimeter sucht er den 170 Meter langen Abwasser-Sammelkanal unter der Choriner Straße in Prenzlauer Berg ab. Kanalschäden wie undichte Rohrverbindungen, Wurzelwuchs oder Risse hält er akribisch im Computer fest. Wurzeln bahnen sich durch undichte Rohrfugen den Weg. Woitinek notiert genau, wo sie durchschlagen und wie weit sie bereits in den Kanal wuchern.
Dafür muss der Mitarbeiter der Berliner Wasserbetriebe nicht einmal den Einstiegsschacht hinabsteigen. Denn eine Hightech-Kamera auf Rädern durchquert wie eine Kanalratte das stinkende Abwasserrohr und liefert detaillierte Videoaufzeichnungen. Sein Arbeitsplatz ist im Trockenen, in einem am Straßenrand geparkten TV- Inspektionswagen, eine Art Schreibtisch auf Rädern mit Bildschirmen, Kamerasteuerung und Computer ausgestattet.
„Rund 660.000 Kubikmeter Abwasser fließen täglich durch die Berliner Kanalisation“, erklärt der Vorarbeiter der Betriebskanalstelle Friedrichshain. Das entspricht einer Füllmenge von 320 Sport-Schwimmbecken. Damit das Schmutz- und Regenwasser ungehindert abfließt und nicht ins Grundwasser sickert, legen Dietmar Woitinek und seine drei Kanalarbeiter regelmäßig Hand an.
Das Berliner Abwasserkanalnetz umfasst insgesamt 9.300 Kilometer – das entspricht der Strecke von Berlin nach San Francisco. Sieben Kanalbetriebsstellen der Berliner Wasserbetriebe, mit 520 Mitarbeitern sorgen für Reinigung, Inspektion und Sanierung des gesamten Abwassersystems. Die Berliner Wasserbetriebe kostet das jährlich 130 Millionen Euro. Obwohl der Wasserverbrauch seit Jahren stetig sinkt, bleiben die Kosten für die Instandhaltung der Infrastruktur gleich. Seit 1991 ist der Wasserverbrauch in Berlin pro Tag und Kopf um 9 Prozent zurückgegangen. Damals lag er bei 140 Litern pro Tag und Einwohner. Heute sind es nur noch 118 Liter.
Auf die tägliche Arbeit von Dietmar Woitinek wirkt sich der geringe Wasserverbrauch nicht gerade positiv aus. Denn die Fäkalien werden weniger schnell durch das Kanalsystem zum Klärwerk befördert. „Da kommt es schon mal zu Geruchsbelästigungen“, weiß Woitinek.
Um die Kanäle von Verstopfungen zu befreien, steigen er und sein Team kaum noch hinunter in die übel riechenden Abwasserrohre. Nur 10 Prozent der Kanäle sind überhaupt begehbar. Deshalb reinigen die Kanalarbeiter größtenteils von der Straße aus. Mit Hilfe von Hochdruckspülfahrzeugen und Saugwagen ziehen sie Schlamm, Sand und sonstige Ablagerungen über Straßenschächte aus den Kanälen.
„Immer noch oft genug landen Speisereste, Zigarettenkippen, Tampons, Rasierklingen oder Katzenstreu in der Toilette“, beklagt der Vorarbeiter. Das bleibe dann nicht nur in den Kanälen hängen, sondern belaste obendrein die Klärwerke. Denn alles, was nicht schon im Kanal stecken bleibt, fließt in eines der 146 Abwasserpumpwerke und wird von dort über Druckleitungen in die sechs Kläranlagen gepumpt.
Plötzlich unter Druck gerät dann das pinkfarbene Wattestäbchen, das vielleicht noch kurz zuvor an Dietmar Woitinek vorbeitrieb. Mit einer Geschwindigkeit von fast neun Stundenkilometern wird die kleine Gerätschaft für saubere Ohren direkt ins Klärwerk befördert. Zahlreiche Hürden stellen sich dem Ohrenputzer dort in den Weg.
Wie hartnäckig sich die kleinen Plastikstäbe den Reinigungsstufen in der Kläranlage widersetzen, weiß Carola Niemann. Die Mitarbeiterin im Klärwerk Ruhleben führt regelmäßig Schulklassen über das menschenleere Industriegelände über dem ein leichter Fäulnisgeruch liegt.
„Die Stäbchen schaffen es oft bis in die Belebungsbecken“, erzählt Niemann. Dort angekommen, liegt die mechanische Reinigung meist spurlos hinter ihnen. Feine Stahlkämme, welche die braune Brühe abfangen, haben sie gekonnt umschifft. Sind, an der Oberfläche flottierend, elegant den Sand- und Schlammräumern am Boden der Klärbecken entwischt.
Meist geht es den leichten Plastikbehelfnissen in den Belebungsbecken an den Kragen. Abgebaut werden in den mit Sauerstoff aufgeschäumten Becken aus dem Abwasser gelöste organische Stoffe sowie Phosphor- und Stickstoffverbindungen, die der Mensch mit dem Stuhlgang ausscheidet. Das dürfte ein Ohrenstäbchen kaum stören, wären nicht am Beckenrand, wo das mechanisch gereinigte Wasser einströmt, feine Fangnetze gespannt.
Alles scheint wie von selbst zu passieren. Stahlrechen durchpflügen runde Becken, Wasser wird aufgeschäumt, ein- und umgeleitet, der getrocknete Klärschlamm in Öfen bei 850 Grad verbrannt. Gesteuert und überwacht werden diese Vorgänge in der Schaltzentrale, die rund um die Uhr mit jeweils zwölf Maschinisten besetzt ist. Selten sind sie auf dem Gelände aus Beton und Stahl zu sehen, das enorme Summen verschlingt.
Die Gesamtkosten der Berliner Wasserbetriebe für Abwasserreinigung, Instandhaltung und Sanierung des Abwassersystems liegen jährlich bei etwa 460 Millionen Euro. Dazu kommt der Bereich der Trinkwassergewinnung, für den 410 Millionen Euro pro Jahr aufgebracht werden.
Bislang wussten sich die Berliner Wasserbetriebe nicht anders zu helfen, als den sinkenden Wasserverbrauch – und damit sinkende Einnahmen – über einen kontinuierlich steigenden Wasserpreis zu finanzieren. Der Preis für einen Kubikmeter Trink- und Schmutzwasser hat sich deshalb innerhalb der letzten 15 Jahre mehr als verdoppelt. Die Lösung der Kostenspirale könnte ein neues Tarifsystem liefern (siehe Kasten). Eine endgültige Entscheidung dazu wird voraussichtlich Mitte November gefällt werden. Die ist dringend geboten, denn in den kommenden Jahren soll die Abwasserreinigung noch aufwändiger und somit teurer werden. Die Berliner Klärwerke müssen aufgerüstet werden. Eine weitere, vierte Reinigungsstufe, die der Entkeimung des Wassers dient, soll, dank der EU-Wasserrahmenrichtlinie, eingeführt werden. Sie schreibt bis 2015 für alle europäischen Gewässer eine verbesserte Wasserqualität vor.