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Archiv-Artikel

vereinigungsgedanken (teil 8) „Plötzlich fehlte uns die Wand“

Dominik Diehl, 43, hatte am 3. Oktober 1990 die „Deutschland, halt’s Maul“-Demo organisiert. Heute ist er Narkosearzt

Vor 15 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt – so der offizielle Terminus. Viele jubelten, einige trauerten, und manche ängstigte, was aus diesem Land werden könnte. Die taz lässt rund um den 3. Oktober Menschen zu Wort kommen, die damals in Berlin waren und die Atmosphäre in der Stadt beschreiben.

„Auf die deutsche Wiedervereinigung haben wir phobisch reagiert. Wir wollten den ganzen Einigungsprozess nicht so richtig wahrhaben. Die Kreuzberger Linke war ja Ende der 80er-Jahre auch in einer guten Position. Nach dem 1. Mai 1987, an dem es quasi zum Volksaufstand kam, hatten wir eine Stärke erreicht, die die Staatsmacht das Fürchten lehrte. Und plötzlich funkte uns diese Maueröffnung dazwischen.

Ich kann mich noch daran erinnern. Ich war auf dem Weg zum Urban-Krankenhaus und dachte: Au Kacke, jetzt geht die Scheiße los. Genauso war es dann auch. Im ganzen nationalistischen Getaumel wurde der erste Schwarze in Eberswalde umgebracht. Über Monate hinweg waren wir im Umland unterwegs, um unseren Beitrag im antifaschistischen Kampf zu leisten. Dann stand die Vereinigung an, und wir wussten: Da muss was passieren.

Ich habe das Plakat gemalt, zusammen mit einem Kumpel. Von den Toten Hosen hatten wir den Adler geklaut. Wir wollten dem Ganzen ein inhaltliches Motto geben. Wir konnten uns gegen diese ganzen Ideologen durchsetzen. Es musste ‚Halt’s Maul, Deutschland‘ werden. Am Ende waren es über 15.000 Menschen, die von Kreuzberg bis zum Alex mitliefen. Das Interessante war aber vor allem: Es waren auch eine Menge Ostler dabei. In Ostberlin hatte sich ziemlich fix eine autonome Bewegung entwickelt, auch wenn die Westberliner Szene natürlich dominierte. Das war ja das Verrückte: Wir waren gegen diesen Einheitstag, im Grunde spielten wir aber selbst Wiedervereinigung. Die Ostler hatten sich sehr für uns Westautonome interessiert. Wir waren sehr gut darin, unsere eigenen Mythen zu pflegen. Tu was für deinen schlechten Ruf, dann geschieht dir auch nichts Böses. Dabei waren wir auch damals nie wirklich gefährlich.

Klar war die allgemeine Stimmung in der Gesellschaft gegen uns. Aber es gab auch eine Skepsis, die wir artikulierten. Vielen Ostlern ging das alles zu schnell. Und die schlossen sich uns an. Am 3. Oktober war ich gar nicht schlecht gelaunt, weil ich das Gefühl hatte: Es gibt eine Gegenkraft gegen diese Vereinigung. Die Ernüchterung folgte dann recht zügig. Es ging zwar weiter mit den Hausbesetzungen. Aber mit der Räumung der Mainzer Straße war die Zeit für mich vorbei. Ich würde nach wie vor sagen: Es ist alles richtig, was wir gemacht haben. Trotzdem waren wir naiv. Wir hatten vielleicht gute Konzepte, wie man Macht erodieren kann, aber nicht, wie wir die Machtverhältnisse tatsächlich umwälzen. Als die DDR weg war, fehlte uns die Wand, an die wir uns lehnen konnten. Wir haben diesen Spitzelstaat ja nie gutgeheißen. Aber irgendwie brauchten wir die DDR als Gegenpol zur BRD. Das ist mir erst im Nachhinein klar geworden. Als undogmatische Linke haben wir nie wieder mehr so eine Stärke gehabt wie Ende der 80er-Jahre.

Mit der autonomen Politik habe ich 1994 aufgehört. Ich hatte Familie, musste arbeiten. Nach wie vor habe ich einen hohen Respekt vor Leuten, die linksradikale Politik machen. Gerade vor dem Hintergrund der dauernden Erfolglosigkeit. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich mich wieder engagieren werde, wenn meine Kinder aus dem Haus sind. In zehn Jahren vielleicht. Und dann ist klar: Wenn ich Politik mache, müssen die grundlegenden Systemfragen mit gestellt werden. So sinnvoll das ist, sich für eine Verkehrsberuhigung einzusetzen, die Welt braucht radikale Antworten.“

PROTOKOLL: FELIX LEE