piwik no script img

Archiv-Artikel

Schwarze Pelle, roter Ketchup, gelber Senf

Während Potsdam den Tag der Deutschen Einheit offiziell feiert, ist Berlin an dem Datum ganz bei sich – und trifft sich zur Kiezkirmes. Die Fressbudendichte spricht für die These, dass den Deutschen die Einheit inzwischen wurscht ist. Stimmt das?

von ULRICH SCHULTE

Am Wurststand, wo sich roter Ketchup und gelber Senf an schwarz verbrannte Pelle schmiegen, zeigt sich, wie es um die Einheit steht. Die Stimmung der Deutschen? „Muffelig. Immer schlecht drauf, wenig Geld. Kein ‚Guten Tag‘, kein ‚Tschüss‘, kein janüscht.“ Thomas Doehring verkauft seit Jahren hier am 3. Oktober, ganz vorne am Brandenburger Tor. Gut zwei Dutzend passen auf jeden Hochleistungsgrill, am Tag geht der Absatz in den vierstelligen Bereich, „der Tag der Einheit ist schon ein Highlight“. Einheitswurst für alle, der halbe Meter im Baguette für 2,50 Euro, Geschmacksverstärker E621 inklusive.

Es ist Tag der Deutschen Einheit, und gemessen an der Fressbudendichte pro Hektar bliebe an diesem Montag nur der Schluss: Den Deutschen ist die Einheit inzwischen wurscht. Diese nicht erlaubte Zuspitzung auf dem so genannten Bürgerfest zu widerlegen, ist nicht leicht. Zehntausende drängten sich am Wochenende auf der Straße des 17. Juni, die Fressmeile zog sich über die Scheidemannstraße auch am Parlament vorbei – sollte Angela Merkel je vorgehabt haben, auch den niedrigen Mehrwertsteuersatz für Lebensmittel zu erhöhen, hat sie ein Blick aus dem Reichstagsfenster eines Besseren belehrt.

Es ist Tag der Deutschen Einheit, Ursula und Uwe Matthiesen sind extra deshalb angereist. Sie kennen das geteilte Berlin, auch wenn sie des Jobs wegen seit über dreißig Jahren in Westdeutschland leben. Immer haben sie an wichtigen Tagen vor dem Brandenburger Tor gestanden. 1965 in Berlin geheiratet, im Januar 1990 zur Silberhochzeit rüber nach Potsdam gefahren, für 45 Ostpfennig das Schloss Sanssouci besichtigt. Weniger ein Einheits- denn ein Volksfest sei das hier, sagt Ursula Matthiesen. „Ich bin da konservativ. Ein solches Fest sollte nicht so rummelig ablaufen.“

Es ist Tag der Deutschen Einheit, und tatsächlich ist Berlin ganz bei sich. Das offizielle Deutschland samt Präsident Köhler und Nochkanzler Schröder traf sich in Potsdam. Die Hauptstadt aber feiert, wie sie es auch auf der Neuköllner Maienkirmes tut. Sie bekam – von einer privaten Agentur organisiert – ein Einheitsfest mit Riesenrad und Kindl Bier nach Bezirksnorm. Robert und Lotta schieben sich rucksackbepackt durch die Menge, sie sind aus München angereist. „Das Feiern müsst ihr noch lernen“, sagen sie. Auf dem Oktoberfest spiele sich der „Sauf-und-Fress-Wahnsinn“ wenigstens in Zelten ab. Von „Volksfestcharakter“ spricht vorsichtig auch der Polizist, dessen Wanne mitten in der Schallschneise der Boxenphalanxen steht. „Ich bin erst seit zwei Stunden hier, zum Glück.“ Alles sei sehr entspannt und ruhig. Er ist schwer zu verstehen, denn der DJ startet noch schnell den Ballermann-Hit „Hey Baby“, bevor die Mädchen der „Tanzkiste“ aus Hohenschönhausen ihren Auftritt haben.

Es ist Tag der Deutschen Einheit, zwei große Bühnen stehen Unter den Linden und müssen irgendwie gefüllt werden. Deshalb steht jetzt Lutz Giese da oben, der Präsident des 1. Berliner Bart-Clubs 1996 e. V.; neben ihm treten viele Männer mit wunderlicher Gesichtsbehaarung verlegen von einem Fuß auf den anderen. Giese hat eine Weltmeisterschaft für Bartträger organisiert. Sie haben sich in Kategorien wie „Backenbart kaiserlich“ gemessen, die Berliner haben drei WM-Titel abgeräumt. „Ein schöner Erfolg“ sei das, findet Giese, und ihm fällt auch zu dem Sinn des Tages ein passender Satz ein: „Nicht nur jeder Bartträger, auch jeder Deutsche sollte in sich das Bewusstsein tragen, dass Demokratie grenzenlos ist.“ Die Enden seines Schnauzbartes, Spannweite 32 Zentimeter, zittern beim Sprechen leicht wie Antennen.

Es ist Tag der Deutschen Einheit, und ein paar Meter östlich des Brandenburger Tores, vor der U-Bahn-Baustelle der BVG, sammelt sich ein Dutzend amerikanischer Touristen zur Stadtführung. Sie tragen Sonnenbrillen an diesem wolkenverhangenen Tag. Der Reiseführer hält ein Foto hoch, darauf ist das Tor ummauert, drum herum liegt Stacheldraht auf Todesstreifen. „You see the Brandenburger Tor 16 years ago. Just to give you a feeling!“ Die Sonnenbrillen starren. „Isn’t that a strange feeling?“ Die Sonnenbrillen starren. Nein, ist es offensichtlich nicht. Dann ziehen sie los, „lots of other important stuff“ wartet.