: Die Schlange wächst und wächst und wächst
Seit zehn Jahren sammelt die Kölner Tafel Lebensmittelspenden und verteilt sie an Bedürftige – etwa über die Ausgabestelle der St. Theodor-Gemeinde in Köln-Vingst. Dorthin kommen Woche für Woche mehr Menschen und bitten um Essen. Doch den steigenden Bedarf kann die Tafel nicht decken
AUS KÖLN SUSANNE GANNOTT
Kaum öffnet Liliane Sturbois die Tür, geht das Geschiebe und Gedränge los. Jeden Dienstag von 11 bis 16 Uhr ist kostenlose Lebensmittelausgabe in der Kirche St. Theodor in Köln-Vingst. Wenn Sturbois und die anderen fünf Frauen der Gemeinde um neun Uhr kommen, stehen die ersten schon da. Bis elf hat sich auf dem Platz zwischen Kirche und Kindergarten eine Schlange von gut 70 Menschen gebildet. Alte und Junge, Männer und Frauen, Mütter mit Kindern. Sturbois kennt sie fast alle. „Die meisten kommen jede Woche.“ Die Krankenschwester im Ruhestand weiß genau, wer an der Reihe ist und verteilt dementsprechend kleine nummerierte Zettel. „Jeder bekommt etwas“, so versucht sie die Drängler zu beruhigen.
Fototermin am anderen Ende der Stadt, vor dem REWE-Supermarkt im bürgerlichen Stadtteil Bayenthal: Der gemeinnützige Verein Kölner Tafel bekommt zu seinem zehnten Geburtstag vom langjährigen Großspender 25 Paletten Milchreis, Nudeln, Saucen, Konserven und Säfte geschenkt. Die Tafel-Gründerin und Vereinsvorsitzende Beate Welbers erklärt, sie hoffe, dass die Sonderspende auch „bisher abseits stehende Unternehmen“ zur Hilfe animiert. Bislang sind es rund 120 Spender – Supermärkte, Fachgeschäfte, Großmarkthändler, Hotels und Caterer –, die nicht mehr verkäufliche Lebensmittel an die Tafel abgeben. Manche täglich, andere nur, wenn etwas übrig ist. Etwa 40 bis 50 Tonnen kommen so jeden Monat zusammen. Die verteilt die Tafel an Wohnhilfeprojekte, Beratungsstellen, Notschlafstellen, Flüchtlingswohnheime, Kitas, Schulen – und an Lebensmittelausgaben wie die in Köln-Vingst.
Dort bewegt sich die Warteschlange langsam und stoßweise durch die Eingangstür in den vorderen Teil des Ausgaberaums. Am ersten Tisch will Hannelore Wego erst einmal den Ausweis sehen. Die Leiterin der Lebensmittelstelle sucht dann im Karteikasten die passende Karte heraus. Beim ersten Besuch muss jeder eine Bescheinigung über die Hohe des Arbeitslosengeldes, der Sozialhilfe oder Rente mitbringen. „Als ich das vor zwei Jahren eingeführt habe, waren sofort 200 Leute weg vom Fenster“, erzählt Wego. Es seien mit der Zeit einfach zu viele gewesen. Und gerade bei den „Ausländern“ hatte sie den Eindruck, dass viele nur kamen, weil es was umsonst gibt.
„Guten Morrrgen!“ Die alte Frau mit dem russisch rollenden R und dem lilafarbenen Halstuch lacht die Frauen hinter dem Tresen an. „Guten Morgen, Frau Buchmüller.“ Hannelore Wego hat die Karteikarte schon zur Hand und trägt das Datum ein. „Jawoll, bitte sehr. Noch ein Märkchen, Liliane!“ Frau Buchmüller ist offenbar ohne Nummernzettel bis zum Karteikartentisch vorgedrungen. Jetzt bekommt sie ihre Marke und geht damit zwei Schritte weiter zur Ausgabe. Schnell verschwinden die Gaben des Tages in ihrer Einkaufstasche: ein Brot, ein Glas Apfelmus, ein Paket Reis, fünf Päckchen Tortenguss. „Heute ist es ziemlich wenig“, sagt Helferin Renate Lätsch und es klingt, als wollte sie sich bei Frau Buchmüller dafür entschuldigen.
Das Angebot variiert je nach dem, was von den Spendern kommt. Bei der Metro, wo Wego jeden Montag anruft, war diese Woche wegen des Feiertags nichts zu holen. Und die Kölner Tafel wird erst am frühen Nachmittag vorbei kommen. „Von der kriegen wir hauptsächlich Frischwaren, Obst, Gemüse, Pilze, aber auch Milch, Brot oder Nudeln“. Hannelore Wego ist dankbar für diese Sachspenden, so unberechenbar in Auswahl und Menge sie auch sind. „Unsere Geldspenden, mit denen ich alle paar Monate einkaufen gehe, werden immer weniger.“
Auch bei der Tafel wird das „Geschäft“ mühsamer. Mit modernen Kassensystemen haben die Supermärkte ihre Vorratshaltung fast perfektioniert, Regale werden „just in time“ aufgefüllt, immer seltener muss Ware kurz vorm Verfallsdatum aussortiert werden. „Wir merken schon, dass wir in manchen Supermärkten weniger bekommen“, sagt Beate Welbers.
Dabei kann die Kölner Tafel den steigenden Bedarf ohnehin nicht befriedigen. Schon gibt es eine Warteliste mit bedürftigen Einrichtungen. „Aber wir haben nicht genug Lebensmittel, nicht genug Leute und nur vier Autos zum Ausliefern.“ Im Schnitt 4.500 Menschen versorgt die Tafel jeden Tag – und das reicht längst nicht. Zwar, sagt Welbers, müsse hierzulande „niemand verhungern“. Aber mit Hilfe der Tafel bekämen gerade die Kinder eine gesündere Ernährung. „Viele Eltern kümmern sich nicht um das Essen.“ Und: „Mit den Hartz-Gesetzen hat die Armut spürbar zugenommen.“ Diesen Satz hat Welbers schon oft in den von ihr belieferten Einrichtungen gehört.
In Vingst merkt man das auch. Jede Woche muss die Leiterin der Ausgabestelle 20 neue Karteikarten schreiben. Und weil es immer weniger Geld und immer mehr Bedürftige gibt, bekommt inzwischen jeder, von der fünfköpfigen Familie bis zum alleinstehenden Rentner, die gleiche Lebensmittelration. „Leider“, bedauert Wego, „das geht finanziell nicht anders.“
Um halb zwölf gerät die Schlange vor der Tür in Unruhe. „Herr Sinter ist da“, ruft eine Stimme von draußen. Wego und die anderen Frauen springen auf, die Ausgabe wird unterbrochen. Der Privatmann aus Odenthal bringt wie jede Woche ein gutes Dutzend Kisten Obst, Gemüse, Brot, sogar etwas Fleisch – alles bei Supermärkten im Bergischen Land eingesammelt. Zwei Männer aus der Schlange helfen den Frauen beim Reintragen, dann wird die Ware gesichtet. Die losen Weintrauben-Rispen werden in alte Brottüten umgepackt, gammelige Pflaumen und Paprika aussortiert. „Sonst heißt es gleich: Iiiehh, das ist ja schlecht“, sagt Wego.
Dann geht es weiter. „Möchten Sie Fleisch oder Gemüse?“ Eine dicke junge Frau mit russischem Akzent wählt die vakuumverpackten Hühnerflügel, die junge Deutsche neben ihr nimmt Paprika und Frühlingszwiebeln. „Salat oder Paprika?“ – „Ja“, antwortet ein grauhaariger Herr, legt seine Marke auf den Tisch und zückt zwei große Einkaufstüten. „Ja, was?“ Er zuckt verständnislos mit den Schultern.
Dass viele der „Empfänger“, wie Wego sie nennt, kaum Deutsch verstehen, kann sie nicht gutheißen. „Man kommt so kaum in Kontakt.“ Immerhin: „Manche, vor allem die alten Damen, bemühen sich.“ Auf rund 90 Prozent schätzt Wega den Ausländeranteil unter den Empfängern, „vor allem Russen kommen her, Türken weniger“. Wer niemals auftaucht, sind deutsche alte Frauen. „Die trauen sich nicht.“
Um Viertel nach zwölf wird die Reihe der Wartenden langsam kürzer. Auf dem Platz hinter der Kirche trudeln nur noch wenige Nachzügler ein. Auch der Extra-Gabentisch neben der Ausgangstür, auf dem am Morgen noch Gläser mit eingemachtem Obst und selbst gekochter Marmelade standen, ist fast leer geräumt. Eine alte Frau mit Goldzähnen begutachtet die verbliebenen Kleidungsstücke, findet jedoch nichts. Beim Hinausgehen drückt sie Sturbois ein kleines Päckchen in die Hand. „Ich hab hier noch was für Sie“, sagt sie und trippelt davon. Das Geschenk entpuppt sich als ein Paar selbst gehäkelte, bunte Überziehsocken. Sturbois freut sich. Die kleinen Dankeschöns bestätigen sie in ihrer Arbeit. „Ich versuche, den Menschen etwas Zuwendung zu geben.“ Eine junge Frau bleibt stehen, will sich verabschieden. „Sie hier zum Beispiel. Sie hat vier Kinder und ist froh, dass sie herkommen kann, nicht wahr?“, fragt Sturbois – und zupft der Frau dabei mit mütterlicher Geste eine Fluse vom Pulli.
Natürlich könnte die Vingster Ausgabe ohne Menschen wie Sturbois und die anderen dicht machen. Auch bei der Tafel arbeiten rund 50 Ehrenamtler: die einen jeden Tag, die anderen ein, zweimal die Woche. Sie fahren die Kühlwagen, planen die Einsätze, schieben Telefondienste. Außerdem beschäftigt die Tafel seit neuestem zwei von der Stadt bezahlte Ein-Euro-Jobber als Fahrer. Böswillige Zungen werden sagen, dass die Tafel damit genau von jenen Zuständen profitiert, zu deren Linderung sie beitragen will. Für Welbers dagegen passen die Ein-Euro-Jobber gut in den Verein: „Wir anderen bekommen schließlich gar kein Geld, da kann man ja nicht von Ausbeutung reden.“
Eine der letzten in der Schlange ist eine Endzwanzigerin mit Wuschelmähne und zerlöcherter Hose. „Sie ist zum ersten Mal hier und ganz sicher drogenabhängig“, sagt Sturbois sofort. Hannelore Wego legt eine neue Karte an. „Das nächste Mal bringen Sie bitte eine Bescheinigung vom Sozialamt mit.“ Mit hektischen Bewegungen verstaut die junge Frau ihren Personalausweis in der Westentasche und stolpert zur Ausgabetheke. Skeptisch mustert sie dort die vor ihr liegenden Lebensmittel. „Kann ich auch Nudeln haben?“ Eigentlich nicht, erklärt man ihr, das sei heute nicht dran. Ausnahmsweise bekommt sie dann aber doch welche – und zwei Zucchini dazu. „Das können Sie gut zusammen kochen“, empfiehlt Sturbois – und schickt bei der Verabschiedung ein aufmunterndes „bis nächste Woche“ hinterher.
Die Schlange ist weg, die Tür wird geschlossen. Pause. Gut 200 Empfänger haben die sechs Frauen versorgt. Am Nachmittag, wenn die Waren von der Tafel sortiert sind, werden noch mal so viele kommen. Auch die Wohnungslosen, „die haben dann ausgeschlafen“, sagt Sturbois und zählt lächelnd ihre Marken.