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Archiv-Artikel

Deutschland ruckelt

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Solche Du-bist-Deutschland-Rechnungen entstehen täglich in den Denkfabriken

Symbolgläubig, wie wir nun einmal sind, haben wir uns einige Mittagspausen lang über den „www.Du-bist-Deutschland.de“-Schwachsinn erregt. Über dieses Agenturdelirium zwischen Hayek und Buddha, dieses „Du bist ein Teil von allem und hast Deutschland in dir“ – ob nun als Multichef oder Klofrau, Zeitungsbote oder Medienmogul. Jeder an seine Stelle, gib dir einen Arschtritt, denn du bist der Schmetterling, der einen deutschen Orkan auf dem Weltmarkt entfacht. Und dazu deutsche Helden: Schweizer Steuerflüchtlinge auf italienischen Boliden, Pornospießerinnen, Industrienazis und Babys, die schon in der Wiege vom KO-Sieg träumen. Kämpfe mit „außerirdischem Willen“ für Deutschland, aber erwarte nichts von ihm. Metropolis in Bunt, Riefenstahl auf zwangsgeduzt. Gunter Gabriel würde sich weigern, so was zu vertonen.

Aufregung vorbei, morgen sind wir wieder eine Unterhose von H&M. Was Schlimmeres befürchten lässt, ist die freiwillige Zusammenschaltung fast der gesamten Medienmacht des Landes zu dieser nationalkapitalistischen Aufrüstungkampagne, das Schulterschlussgestammel der Propagandaleiter: kein „Wozu“ in den Bekundungen des „Patrioten“ Günther Thielen aus dem Hause Bertelsmann, der die 30-Millionen-Inititialzündung zusammentelefonierte – nicht für das egalitärste Pisaland der Welt, sondern für das Einverständnis von Einzelkämpfern mit den Regeln, nach denen sie verlieren. Und im Übrigen: Der „Reformkurs“ muss fortgesetzt werden.

Da greift die Edelbrandschrift des „Bürgerkonventlers“ Meinhard Miegel („Epochenwende“) tiefer. Er stellt die alternativlose Anpassung an die „Wirklichkeit“ in einen großepochalen Zusammenhang. Es geht nicht nur um „Deutschland“, sondern gleich den ganzen „Westen“. Dessen Zeit sei vorbei, das Kapital wandere eben von gesättigten Märkten in lukrativere Gefilde – und keine Macht der Welt könne das verhindern. Die Armen wollen nach oben, und wie! „Man muss sie gesehen haben, die Männer, Frauen und Kinder in Indonesien, (wie sie) barfuß zur Arbeit gehen, um ihre Schuhe zu schonen … wie sie in ihren frisch gewaschenen Blusen friedlich schnatternd den Schulbus besteigen, um zu … lernen, lernen und nochmals zu lernen …“ Und im Westen: saturierte Prolls, die konsumgeil und „pilzgleich“ die Gesellschaft zersetzen, und gierige, dekadente Eliten, die sich neofeudal abschließen. China!; der Wachstumswahn; der Konsumterror, die ökologischen Zerstörungen, der medial pervertierte Politikbetrieb, der depressive Individualismus – das spenglert so vor sich hin, und gibt am Ende die größte europäische Errungenschaft preis: den demokratischen und sozialen Staat. Dieser „menschenfeindliche“ Gleichmacher hat den „Starken … gründlich abgewöhnt, sich um die Schwächeren zu kümmern“, hat ihnen „die Mittel, die (sie) dafür benötigten, ungefragt weggenommen“, woraufhin die Eliten in den Solidaritätsstreik treten. Hilflos konstatiert Miegel den wachsenden Abstand zwischen Überflüssigen und Erbenden, zählt die durch gesellschaftliche Arbeit aller entstandenen Vermögen (9,6 Billionen) und freien Geldreserven „der Deutschen“ (2,7 Bio.) zusammen – und ruft: Seid nett zu den Reichen, sonst gehen sie ganz weg. Winselt die Neofeudalen um ein freiwilliges Sozialmäzenatentum an und predigt in den Shopping Malls solide Werte.

Das Abendland ist in Gefahr, nur Europa kann gegen die herandrängenden Asiaten ein Wertebollwerk errichten. Kleingedruckt: Die bisher „Armen“ (die europäischen Lohnarbeiter) müssen schlucken, dass sie nun zu den Reichen gehören – auch wenn ihre Löhne sich zwischen rumänischem und belgischem Niveau einpendeln. Und deshalb gelte es, die Würde des Schuhputzers, die Werte der Kleinfamilie und die Nachbarsolidarität zu „adeln“, zum Reclamheft zu greifen, und Arbeit als Selbstverwirklichung denen zu überlassen, die es können: den Eliten. Es ist das alte Dilemma der Rechten: mit den Werten heilen zu wollen, die von eben dem zerrieben werden, woran sie auf keinen Fall rühren wollen: freie Arbeitsmärkte, niedrige Steuern, Eigentum und ererbte Privilegien.

Liberaler Gutelaune-Schaum und konservative Wesentlichkeitspredigt vom Oberdeck – aber welches Projekt hat die Linke im Du-bist-Deutschland-Staat? Zunächst: Die Menschen sind nicht so blöd, dass sie die unangenehmen Eckpunkte aus Miegels Niedergangsszenario leugnen; die sind inzwischen zu Allgemeingut geworden. Was die Leute nicht einsehen, ist die ungleiche Verteilung der (relativen) Verluste und eine „Aufbruchspolitik“, die lediglich die Schlachtschiffe der Globalisierung aufrüstet, die Heizer schlechter bezahlt und einigen die Rettungsringe reicht. Um dann einen Kurs zu fahren, der die Eisberge zum Schmelzen bringt.

Es gäbe für die Linke ein paar große Projekte, die überzeugend und absolut notwendig sind, überdies kompatibel mit dem Fortbestand der Produktionsverhältnisse. Kurz gesagt: – ein Bildungsprogramm, auf das sich Wertkonservative und Gleichheitsdemokraten einigen müssten, solange sie ihre Werte nicht öffentlich dementieren; – eine deutsche – und, wenn die Kräfte reichen: europäische – Weg-vom-Öl-Strategie, die Deutschland in zwanzig Jahren energieautonom machen könnte (Schweden hat so etwas gerade beschlossen) und überdies der Industrie eine lang anhaltenden Konjunktur und hunderttausende von Arbeitsplätzen bescherte.

Beides aber kann der Markt nicht leisten, und für beides sind Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe nötig. Drittens also: eine, sagen wir, 5-prozentige Steuer auf Miegels 2,7 Billionen Geldvermögen – und das auf zehn Jahre, um die Staatsschuld zu bezahlen oder diese Investitionen zu ermöglichen. Unbillig wäre das nicht, denn vieles von diesem Gewinn verdankt sich dem politischen windfall der letzten 25 Jahre.

„Du bist der Schmetterling, der einen deutschen Orkan auf dem Weltmarkt entfacht“

Solche Du-bist-Deutschland-Rechnungen entstehen täglich auf den Bierdeckeln der demokratischen Denkfabriken. Öffentlich diskutiert, könnten sie tatsächlich das Land nachhaltig verändern – und mit schmerzhaften Schnitten ins Soziale versöhnen. Etwa durch ein Projekt, wie es Ulf Poschardt (taz vom 30. 9.) skizziert: „In den schwierigsten Vierteln der Großstädte werden die besten Schulen installiert. Die besten Lehrer werden landesweit an jene Brennpunktschulen geschickt. Beispielhafte Karrieren aus dem Ghetto wären die Folge.“ Poschardt verrührt solches Masterplan-Denken mit allerlei abwegigen Ressentiments. Aber richtig ist eines: die intellektuelle Linke strahlt nichts mehr von der Verliebtheit in die Zukunft aus, die immer ihr Erbteil war. Die SPD, die angeblich über 100 linke Abgeordnete verfügt, von denen man in den letzten sechs Jahren nichts gehört hat, wird solche Gedanken nicht ohne Druck in Gesetzesnähe tragen. Aber der Hardt-Negri-Romantizismus mit seinem Schmuddeladorno-Touch ist dafür ebenso wenig hilfreich wie die apokalyptischen Großwürfe à la Miegel. Da hat der Poschardt leider Recht. Aber wenn die Rechten anfangen, wie Marcuse zu reden und die Kabrio-Denker wie Hilmar Hoffman, wird es höchste Zeit. Nicht auszudenken, wenn Bertelsmann erwachte – und mehr als konjunkturbedingt freien Werberaum mit seinen Inhalten füllte …

Mathias Greffrath lebt als freier Publizist in Berlin