: Fingerübungen im Denken
Ihr Sprachwitz ist philosophisch geschult, ihre Objekte leben von den Paradoxien des Alltags: Die Galerie Radkunst am Potsdamer Platz zeigt Arbeiten von Andrea Tippel
Hinter dem Ritz Carlton hat die Galerie Radkunst ihr temporäres Quartier im Biesheim Center bezogen. Bislang konnte die riesige Ladenfläche noch keinen risikobereiten und finanziell gut gepolsterten Mieter finden. Deshalb hat Zwischennutzer Michael Blanke den Raum zum Shop für Design-Fahrräder plus Galerie umfunktioniert.
Die unverputzte Betonhalle steht in einem wohltuenden Gegensatz zu den pompösen Gebäuden der Umgebung. Nach einer Ausstellung mit Mike Steiner hat Blanke nun Andrea Tippel eingeladen: Zwischen den exklusiven Bikes finden sich Objekte, Zeichnungen und unbekannte Ölgemälde von der in Berlin lebenden und in Hamburg lehrenden Künstlerin.
Andrea Tippel absolvierte nicht nur die Schauspielschule, sondern auch ein Philosophie- und Psychologiestudium. Dieser Ausbildung ist wohl ihre Neigung zu ausgeprägten Gedankenspielen zu verdanken. Die Beschäftigung mit existenziellen Fragen betreffend Alter, Geburt und Tod sowie Überlegungen zu profanen Alltagszuständen bringt Tippel spielerisch leicht zu Papier – wie mit Blei- und Buntstift ausgeführte Versuchsanordnungen. Assoziationsketten und abwegige Vergleiche zwischen Algebra und allzu menschlichen Begehrlichkeiten sind in mehreren Bildreihen auf große Bögen gezeichnet. Man meint, Andrea Tippel bei ihren Fingerübungen im Denken zuschauen zu können.
Die Sequenzen behandeln einzelne Fragestellungen – wie zum Beispiel das kunsthistorisch brisante Problem „Was hat Bechstein Nietzsche erzählt und was Nietzsche Duchamp?“ –, sie sind angeordnet wie ein Comicstrip, gehorchen aber einer völlig anderen Ästhetik. Es ist nicht leicht, all diese Zahlen-, Bild- und Textblätter zu dechiffrieren – was das Vergnügen nur verlängert. Ein wesentlicher Bestandteil der Tippel’schen Kunstfertigkeit ist ihr Humor, der sich vielgestaltig entlädt: Ein zusammengeknüllter Stadtplan von Paris heißt da schlicht und einfach „Scheiß Paris“; bei dem Objekt „Paradox“ steckt treffend die Klinge eines Beils im eigenen Stiel.
Nahezu unbekannt geblieben sind die Ölgemälde aus der kurzen klassischen Malperiode in den Achtzigerjahren. Diese Werkphase hat Andrea Tippel nach eigenen Aussagen nur eingeschoben, um die Skeptiker gegenüber ihrem „Zeug“ eines Besseren zu belehren. Entrückt, aber gleichzeitig ernst und leicht diabolisch wirken die „Schwestern“ mit ihren Schultüten, wie sie die Betrachter anblicken. Die verhaltenen Farben und die Präzision der Malerei geben dem Bild eine seltsame Sogwirkung.
Das zwischen Fluxus, Konzept-Kunst und Literatur angesiedelte Werk – Andrea Tippel hat auch einen Roman verfasst, der ausschließlich aus Wörtern mit drei Buchstaben besteht – erweist sich als enorm reich an Aperçus und aberwitzigen Gedanken. Die Leichtigkeit der fast kindlich wirkenden Zeichnungen wiederum ist das Entree zu einer intellektuellen und tiefgründigen Schwere.
MATTHIAS REICHELT
Bis 31. 10., täglich 14–18 Uhr, Radkunst Galerie, Berliner Freiheit 2