„Wir sind soziale Wesen, das liegt in unseren Genen“

Freizeit Die Bremer Freizeitwissenschaftlerin Renate Freericks fordert mehr kollektive freie Zeit für alle – und einen schützenden politischen Rahmen

Renate Freericks

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ist Professorin für Pädagogische Freizeit- und Tourismuswissenschaft an der Hochschule Bremen.

taz: Frau Freericks, wie groß ist heute die Chance, dass eine große Zahl von Arbeitnehmern gemeinsam freihat?

Renate Freericks: Das wird schwieriger. Denn im ehemals typischen Nine-to-Five-Job, also in der Zeit von 9 bis 17 Uhr, arbeiten nur noch 24 Prozent der Beschäftigten. Wir leben mit einer wachsenden Zahl von Jobs im Gesundheitssektor, in der Unterhaltung, in Freizeit, Konsum und Gastronomie in einer Dienstleistungsgesellschaft mit Rund-um-die-Uhr-Wettbewerb.

Was bedeutet das?

Es gibt keinen wirklichen Sendeschluss. Wer sich dem entzieht, handelt sich Nachteile ein, warnen Unternehmen. Das macht natürlich kollektiv freie Zeiten komplizierter. Dazu kommt: In unserer Zeitkultur ist vieles zerstückelt, dynamisch – und natürlich global. Auch die zunehmende Digitalisierung und die damit verbundene ständige Erreichbarkeit von Unternehmen und Beschäftigten lässt die Grenzen zwischen Arbeitszeiten und arbeitsfreien Zeiten verschwimmen. Arbeitszeit, Familienzeit und freie Zeit lassen sich gar nicht mehr so scharf voneinander trennen. Wenn ich aus dem Büro raus bin, kümmere ich mich erst um die Kinder, dann um den Haushalt. Später mache ich noch etwas für den Job.

Ist da kollektiv freie Zeit überhaupt wichtig, wenn ich in dieser Struktur doch möglicherweise viel individueller planen kann?

Ich glaube, dass das sehr wichtig ist. Denn Menschen sind nun mal auf Austausch angelegt. Wir sind soziale Wesen, das liegt in unseren Genen. Wir brauchen das Gegenüber, um uns zu messen, um Anerkennung und Feedback zu bekommen, beispielsweise in gemeinsamen freien Zeiten am Wochenende im Verein, bei Aktivitäten, bei ehrenamtlichem Engagement und natürlich in den Familien. Ansonsten vereinsamen wir. Aber selbst die Kontaktzeiten am Arbeitsplatz gehen ja zurück. Zeiten zum Klönen, um sich auszutauschen, Teeküchen überhaupt, das wird seltener. Da gibt es seit einigen Jahren aber auch eine Gegenbewegung.

Was für eine?

Es sind nicht nur Kirchen und Gewerkschaften, die darauf hinweisen, dass wir der Zeit- und Arbeitsverdichtung etwas entgegensetzen müssen. Dass wir möglicherweise wieder eine Entschleunigung brauchen, um etwas gegen psychische Erkrankungen und Burnout am Arbeitsplatz zu unternehmen.Es funktioniert nicht, wenn wir es nur dem Einzelnen überlassen, mit seiner Zeit fürsorglich umzugehen und für die richtige Work-Life-Balance zu sorgen. Wir haben ein Recht auf eigene Zeit, ja. Aber wir haben auch ein Recht auf gemeinsame Zeit. Und die muss gewährleistet sein.

Die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik hat zusammen mit der Bremer Arbeitnehmerkammer das Manifest „Zeit ist Leben“ entwickelt. Die Eckpunkte:

Freie Zeit ohne ökonomische Zwänge ist Voraussetzung für die Selbstverwirklichung des Menschen.

Zeitgestaltung in der Erwerbsarbeit bedeutet: Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit, um mehr Zeit für Familie, Partnerschaft und für die Zivilgesellschaft zu haben.

In einer flexiblen Gesellschaft wachsen die Anforderungen an den Einzelnen, fürsorglich mit seiner Zeit umzugehen. Jeder muss lernen, die Balance zwischen Arbeit und Leben auch umzusetzen. (epd)

Wie könnte das geschehen?

Wenn das Recht auf gemeinsame freie Zeit fortbestehen soll, muss es dafür einen politischen Rahmen geben. Ich bin mir zwar unsicher, ob man immer am freien Sonntag festhält. Aber den gibt es nun mal schon. Am Wochenende haben noch immer viele Menschen frei. Dieser Rhythmus existiert, das ist viel wert. Ob es die Feiertage sind, die wir zum Glück noch haben, oder die Sonntage – das sind geschützte Zeiten, die wir als soziale Wesen dringend brauchen. Wenn wir die mehr und mehr abschaffen, habe ich Sorge, dass es uns nicht gelingt, eine neue kollektive Zeit freizuschaufeln.

Interview: Dieter Sell /epd