FÜR MERKEL WIE FÜR DIE SPD IST DER GÜNSTIGE MOMENT GEKOMMEN
: Angst vor dem Abstieg

Nach der Sondierungsrunde mit der Union zeigte sich der Kanzler gestern überraschend offen. Bei dem Spitzengespräch, das heute die Kanzlerfrage klären soll, müsse „die Struktur insgesamt beredet und so weit wie möglich entschieden werden“, sagte Gerhard Schröder. Damit sprach er unverblümt aus, was seine Partei seit zweieinhalb Wochen zuletzt mehr schlecht als recht verschleiern wollte. Es war das Eingeständnis, dass die Forderung nach einer neuerlichen Kanzlerschaft Schröders nicht mehr ist als ein Faustpfand, das die SPD im Postenschacher mit der Union meistbietend verkaufen will. Bezahlt wird mit Ministerposten, dem Amt des Bundestagspräsidenten oder notfalls auch mit inhaltlichen Zugeständnissen.

Überraschend schnell hat die SPD nun in die Klärung dieser Fragen eingewilligt, die sie eigentlich erst am Ende von Koalitionsgesprächen mit der Union bereden wollte. Kein Wunder: Von Tag zu Tag erschien Schröders Anspruch unglaubwürdiger, bröckelte auch in der Öffentlichkeit das Verständnis für die Machtanmaßung der Genossen, die in den ersten Tagen nach der überraschend glimpflichen Wahlniederlage noch psychologisch verständlich schien. Bis zum mutmaßlichen Abschluss von Verhandlungen wäre die Glaubwürdigkeit des zunächst so forsch vorgetragenen Anspruchs auf das Kanzleramt derart erodiert, dass die SPD dafür nicht mal mehr einen Referatsleiterposten hätte eintauschen können.

Aber auch der CDU-Aspirantin Angela Merkel wurden gestern schon mal die Instrumente gezeigt. Mitten im Koalitionspoker fiel Friedrich Merz der eigenen Partei in den Rücken, indem er das „personelle Angebot“ im Wahlkampf kritisierte, sprich: die Person der Spitzenkandidatin. Mit dieser neuerlichen Demonstration gekränkter Eitelkeit katapultierte sich Merz zwar vor allem selbst ins Abseits. Doch erinnerte seine Intervention daran: Auch Merkel muss ihren Anspruch auf die Kanzlerschaft schnell absichern, bevor die von Schröder erzwungene CDU-Einheitsfront wieder zerbröselt. Jetzt sind Merkel wie die SPD auf eine schnelle Einigung angewiesen. Sonst ist für beide Seiten der günstige Moment verstrichen.

RALPH BOLLMANN