Melilla: Der Zaun muss weg! : KOMMENTAR VON DOMINIC JOHNSON
Als in Berlin die Mauer noch stand und Deutschland geteilt war, predigte der Westen das Recht auf Freizügigkeit. Reisefreiheit forderten die Bürger der DDR, und wenn sie über Grenzzäune kletterten, erhielten sie Anerkennung und Schutz. Heute stehen die Mauern nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd. Aus dem „freien Westen“ ist die „Festung Europa“ geworden, mit Grenzanlagen voller Soldaten und Stacheldraht, wo geschossen wird.
Menschenrechte sind unteilbar. Was für Europäer gilt, kann Afrikanern nicht verwehrt werden. Wer Untertanen des real existierenden Sozialismus beim Kampf um das Recht auf Ausreise unterstützte, darf Flüchtlingen aus bankrotten Entwicklungsländern nicht die Tore verschließen. Und auch Bürger solcher Staaten in Afrika, die politisch und ökonomisch Perspektiven bieten, brauchen die Möglichkeit der Arbeitsmigration – diese ist besonders wichtig in Zeiten raschen gesellschaftlichen Wandels. Schließlich meisterte auch Europa einst seine Modernisierung nur durch millionenfache Auswanderung Richtung Amerika. Die europäische Arbeitsmigration erreichte ihren Höhepunkt zur Zeit der Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In Zeiten gigantischer globaler Kapitalströme, wie sie damals und seit kurzem auch jetzt wieder herrschen, gehen eben auch Menschen verstärkt auf Wanderschaft.
Melilla zeigt: Es droht Apartheid zwischen den Kontinenten. Aber was zwischen Schwarz und Weiß in Südafrika möglich war, muss auch im globalen Maßstab gelten. Europa muss von der Wahnvorstellung Abschied nehmen, es sei eine von sich bedrohlich vermehrenden braunen und schwarzen Horden belagerte Insel der Glückseligen, die sich nur mit immer höheren Mauern gegen den Ansturm aus Arabien und Afrika wehren kann. Entgegen verbreiteten Befürchtungen zogen nach der deutschen Wiedervereinigung nicht alle DDR-Bewohner nach Westen, und nach der EU-Osterweiterung leben die Bürger der EU-Beitrittsländer immer noch zu Hause. Auch Afrika würde sich nicht entvölkern, wenn Afrikaner in Würde nach Europa reisen dürften. Es ist Zeit, dass Europa seine eigenen Werte ernst nimmt.