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Archiv-Artikel

Eine Frage der Coolness

Leander Haußmanns „Sonnenallee“ (1999) ist und bleibt trotz oder vielleicht gerade wegen der verspielten Komik und albernen Überdrehtheit eine der besten Darstellungen des Lebens in der DDR. Die Spreewaldgurken sind vielleicht nicht so authentisch in Szene gesetzt wie in „Good Bye, Lenin!“, dafür wird das Lebensgefühl der Jugendlichen sehr viel treffender wiedergegeben als in so vielen anderen filmischen Versuchen. Da wäre z. B. Wuschels geradezu epischer Kampf um die heiß ersehnte Stones-Platte, der ihm am Ende beinahe das Leben kostet, dabei aber auch rettet. Wenn Sie den Film nicht gesehen haben, vergessen Sie den letzten Halbsatz einfach wieder. Dazu (der Jagd nach der Platte) lässt sich als ehemaliger DDR-Bürger mit kosmopolitischem Musikgeschmack sofort eine Beziehung herstellen. Was für ein Fest es doch war, wenn Verwandte oder Bekannte auf windigen Wegen Tonträger angelegentlich genauso windiger Qualität ins sozialistische Heimatland geschleust hatten. Wie einige Jahrzehnte davor die Dorfbevölkerung vor dem ersten Fernseher in der von meiner Urgroßmutter betriebenen Poststube sich versammelte, so saßen wir (Jugendliche jeglichen Alters) gern am elterlichen Plattenspieler oder dem Stereokompaktrecorder beieinander, um die neuesten Werke diverser New-Wave-, NDW-, Hardrock- und Pop-Größen in uns aufzusaugen.

Eines Tages nun war es an einer Tante, mir aus dem Intershop für, weiß Gott wie erschlichenes, Westgeld ein Geschenk mitzubringen. Ich spekulierte auf Kaugummis, Comics, Autoquartettkarten und dergleichen, erhielt stattdessen aber eine Langspielplatte. Ohne allzu großes Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Verwandten packte ich das Werk aus, sah eine Frau darauf, freundlich lächelnd zwar, aber mit einem Akkordeon bewehrt – und war am Boden zerstört. Und dann setzte die Tante zum Todesstoß an: „Weil du doch auch Akkordeon spielst …“ Und dafür musste ich mich noch bedanken. Akkordeon – der Welt uncoolstes Instrument, ganz besonders dann, wenn die Peergroup gerade Depeche Mode und Queen anbetet. Und man selbst sitzt allein daheim mit dem Burebübele im Dreivierteltakt. Oh, ignorante Jugend! Erst Jahre später sollte ich von Ska-Musik und finnischem Tango hören, nur um letztendlich auch wieder zu Lydie Auvray zurückzukehren und die Platte tatsächlich mal anzuhören. Und was soll ich sagen? Meine Verehrung für ihre Kunst ist jetzt wenigstens jenseits adoleszenten Fantums entstanden und damit reif und ehrlich zu nennen. Mit ihrer Band, den Auvrettes, spielt Lydie Auvray am kommenden Donnerstag (20 Uhr, 28 €) in der Passionskirche Kreuzberg. DANIÉL KRETSCHMAR