: „Quadratur des Kreises? Ja bitte“
INTERVIEW LUKAS WALLRAFFUND ULRIKE WINKELMANN
taz: Herr Kuhn, die Grünen halten sich auffällig zurück, das Gebaren von Gerhard Schröder und der SPD seit der Wahl zu bewerten. Sind Sie immer noch loyal zu Ihrem Kanzler?
Fritz Kuhn: Nein, es gibt keine Koalition nach der Koalition. Die SPD muss einsehen: Die Schwerkraft kann man nicht aushebeln, indem man in die Luft springt und Hurra schreit. Die Union hat mehr Sitze im Bundestag, da kann sie den Anspruch auf die Kanzlerschaft stellen. Ein wochenlanges Theater um die Frage, ob man die Realität sieht oder ignoriert, ist nicht förderlich für den Abbau der Politikverdrossenheit. Die beiden großen Parteien sollen jetzt schauen, dass sie eine Koalition zustande kriegen. Im Moment stecken die ja in Sandkastenspielen personalpolitischer Art.
Die Grünen haben am 18. September 240.000 Stimmen an die Linkspartei verloren – ihr größter Verlust bei den Wählerwanderungen. Wie wollen Sie die zurückgewinnen?
Zum Gesamtbild gehört, dass wir von der SPD Stimmen dazubekommen haben. Aber selbstverständlich stehen wir in der inhaltlichen Konkurrenz mit der PDS. Deren 100-Tage-Programm ist ein Wunschkatalog, der sich um die Fragen der Finanzen nicht schert. Wir müssen nun zeigen, dass die rübergegangenen Stimmen besser bei uns gelandet wären.
Wie denn?
Indem wir die Opposition besser machen: Die Regierung sauber, präzise und im richtigen Moment stellen. Wir müssen immer eigene Vorschläge machen, die verwirklicht werden können. Unsere Wähler und Wählerinnen sind klug: Die verstehen den Unterschied zwischen billiger und konstruktiver Opposition. Wir haben als Einzige die ökologischen Antworten. Und wir haben einen Gerechtigkeitsbegriff, der unter den Bedingungen von Globalisierung und Demografie der Wirklichkeit näher steht als der der PDS.
Haben die 240.000 Leute, die statt Grün Linkspartei wählten, diesen Gerechtigkeitsbegriff bislang bloß nicht verstanden?
Die PDS unterhält eine Illusionswerkstatt. Ein Beispiel: Die PDS will drei Prozent Rentenerhöhung jedes Jahr bei 800 Euro Mindestrente. Toll. Ich kenne auch viele arme Rentner, die mittwochs im Aldi auf Sonderangebote warten. Aber das PDS-Wunschprogramm ist nur finanzierbar, wenn ich entweder den Rentenversicherungsbeitrag anhebe – letztlich zu Lasten der Arbeitslosen. Oder wenn ich zu Lasten der jüngeren Generation in die Verschuldung gehe. Beides ist völlig unakzeptabel.
Damit geben Sie die 240.000 Stimmen verloren. Die Linkspartei-Wähler finden, dass Rot-Grün den Rentnern, Arbeitslosen und Kranken zu viel abgenommen hat.
Nein, ich gebe nix verloren. Wir leisten Überzeugungsarbeit. Ich bin für mehr Gerechtigkeit, aber nicht als leeres Versprechen oder zu Lasten künftiger Generationen.
Wird die künftige, strategische Ausrichtung der Grünen mit einer „Öffnung nach allen Seiten“ richtig beschrieben?
Nein. Denn das wäre mir zu beliebig. Ich verstehe die kommenden vier Jahre in der Opposition als eine permanente inhaltliche Sondierung von Optionen. Ich halte es für falsch, von Epochen zu reden – Rot-Grün wird es auch weiter geben, wenn und wo es geht. Das Wichtigste ist, dass für uns der Satz „Macht folgt Inhalt“ gilt. Auch wenn irgendwann und -wo über Schwarz-Grün geredet wird.
Woher rührt die verbreitete Begeisterung über die „Jamaika“-Idee? Offenbar wünschen viele, dass die Grünen das „Lagerdenken“ überwinden.
Nur weil es auch mal interessant wäre, wird es Schwarz-Grün nicht geben. Koalitionen sind für uns kein Feuilletonproblem nach dem Muster: Es gibt doch jetzt schon Familien, wo Schwarz-Grün am Küchentisch sitzt. Schwarz-grüne Koalitionen wird es nicht durch Anschmusen, sondern durch Konfrontation geben.
Bedeutet Ihre „permanente Sondierung“ nicht die Quadratur des Kreises? Wie wollen Sie Linkspartei-Wähler überzeugen und gleichzeitig Bündnisse mit der Union ausloten?
Die Quadratur des Kreises ist doch ein attraktives Projekt. Im Ernst: Natürlich ist das nicht einfach, aber zum Beispiel unsere Strategie „Weg vom Öl“ kann Leute auf allen Seiten überzeugen. Manche Leute müssen sich in diesem Winter zwischen einem vollen Heizöltank und Weihnachtsgeschenken entscheiden. Sie sehen: Das ist auch eine soziale Frage. Die Vorstellung, dass man sich mit einer modernen Wirtschaftspolitik zwischen dem Sozialen und der Wirtschaft entscheiden muss, halte ich für falsch.
Sie haben als Wahlkampfmanager plakatieren lassen: Zweitstimme ist Joschkastimme. Jetzt will Joschka Fischer im Bundestag schweigend in der letzten Reihe sitzen. War das nicht ein Wahlbetrug?
Nein, überhaupt nicht. Joschka Fischer wäre Minister geblieben, wenn es gereicht hätte. Dass er sich nun entschieden hat, in der Opposition nicht die Führung zu übernehmen, müssen wir respektieren. Wir haben im Wahlkampf zwar herzhaft personalisiert, sind aber dennoch viel stärker für Inhalte gewählt worden als 2002. Dieses Mal haben alle Medien von taz bis FAZ gesagt: Gebt auf, Leute, es hat keinen Zweck. Doch mit unseren Inhalten wie „Weg vom Öl“ oder einer modernen Kinderpolitik haben wir es dennoch geschafft.
Ist der Generationenkonflikt in der Fraktion jetzt beseitigt, wenn die 39-jährige Ex-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt zur Vize-Bundestagspräsidentin gewählt wird?
Ich sehe dieses Generationenproblem nicht so, wie es manche bei uns hochziehen. Renate Künast und ich sind 49 und 50 Jahre alt. Damit sind wir weit unter dem Schnitt der anderen Parteien. Natürlich will ich, dass die jungen Leute bei uns schnell etwas werden – aber nur mit inhaltlichen Leistungen, und nicht weil sie eine andere Zahl in der Geburtsurkunde haben. Die Jungen müssen bei uns klar machen, welche Erfahrungen sie zusätzlich einbringen, die die Älteren nicht verstünden. Bislang liegt dazu bloß das besondere Bewusstsein für demografische Probleme auf dem Tisch. Da sage ich: Das habe ich auch. Welches Problem entsteht, wenn ich als 25-Jähriger in die Rentenkasse jetzt einzahle und befürchten muss, in 40 Jahren nichts herauszukriegen, kann ich auch als 50-Jähriger gut nachvollziehen.
Nächstes Wochenende ist Parteitag. Bei allem Jubel über die 8,1 Prozent Wahlergebnis haben Sie dennoch verloren und müssen Ihrer Basis erklären, warum. Da Sie die Fraktion zur „Ideenwerkstatt“ erklärt haben, müssen Sie neue Themen bieten. Welche?
Wir haben erst einmal Grund genug uns zu freuen. Wir werden in Oldenburg über neue Optionen reden, aber auch die letzten Monate kritisch bilanzieren. Und in der Fraktion werden wir in den nächsten Monaten auch schwierige Themen diskutieren. Dabei geht es zum Beispiel in der Steuerpolitik um Konkretion – unsere Kritik an Paul Kirchhof muss sich in bessere Ideen verwandeln. Bei der Frage, wie wir eine multikulturelle Demokratie verstehen, müssen wir ehrlicher werden. Auch viele Grüne melden ihre Kinder in anderen Bezirken an der Schule an, um dem hohen Ausländeranteil in ihrem Wohnbezirk zu entgehen. Dazu kommt die schwierige Frage der Haushaltskonsolidierung. Wir müssen ja sparen und investieren. In der Opposition wirst du nur gut, wenn du es dir selbst unbequem machst.
Gehört zur Bilanz nicht auch eine Antwort auf die Frage, woran Rot-Grün gescheitert ist?
Wir Grünen haben mit 8,1 Prozent hervorragend abgeschnitten. Viele, auch bei uns, hatten ja eher mit 6 Prozent gerechnet. Wenn wir über Rot-Grün reden, müssen wir feststellen: Die Neuwahlidee von Gerhard Schröder war ein Flopp. Der hat in einem Moment aufgegeben, wo man nicht hätte aufgeben dürfen. Ihn hat die Kraft verlassen, mit dem eigenen Laden richtig umzugehen.
Sie haben keine Fehler gemacht.
Doch, natürlich. Ich will mal einen nennen: Wir haben diesen Wahnsinn begangen, 2002 in den Koalitionsverhandlungen wochenlang über eine Sparliste von Hans Eichel zu debattieren, die wegen der Unions-Mehrheit im Bundesrat gar nicht kommen konnte. Also, ich will jetzt wirklich nicht die Nummer machen: tolle Sachen grün, doofe Sachen rot. Aber so ein elementares Strukturproblem wie die SPD, die bei sich keine tragfähige Brücke von Modernisierung zur Gerechtigkeit schlagen konnte, hatten wir nicht.
Nach der Neuwahlentscheidung Schröders sagten einige in der Grünen-Spitze: Okay, Schröder verlässt uns, also verlassen wir ihn. Sie dagegen wollten die Koalition bis zum letzten Tag aufrecht erhalten.
Ja, mit Anstand und Würde. Stellen Sie sich vor, wir wären am 23. Mai aus der Regierung gegangen. Dann hätte die SPD gesagt: Die Grünen verlassen das Schiff. Die sind schuld, wenn es schief geht. Deshalb war es absolut richtig, die Nerven zu behalten. K.O. durch Erschöpfung ist nicht unser Ding.