: Im Arsenal des Unbewussten
Tanz Samir Akikas zehnte Produktion am Theater Bremen erforscht das Unbewusste – und bedient sich dabei großzügig aus der Popkultur und Kunstgeschichte
von Elisabeth Nöfer
Akika X“ hat Choreograf Samir Akika seine zehnte Inszenierung am Theater Bremen genannt, mit der er die diesjährige Tanzspielzeit eröffnet. „X“ bedeutet Zehn, ist aber auch Symbol für die unbekannte Variable, das nicht Gewusste – und um Unterbewusstsein, Illusion und das Absurde soll es an diesem Abend gehen. Die neunköpfige Kompagnie von „Unusual Symptoms“ tanzt einen Traum, in dem die Regeln der sogenannten Wirklichkeit nicht mehr gelten. Die zusammengewürfelten Assoziationen des träumenden Subjekts ergeben eine Wunderkammer an Requisiten und absurden Situationen, an deren ästhetischen Spielereien sich das Auge sattsehen kann. Nichts scheint unmöglich: Massiv wirkende Bühnenteile sind plötzlich beweglich, eine Tasche läuft auf Beinen herein. Das Ganze strotzt vor kreativen Einfällen, die einem da aus verborgenen Türen entgegenspringen.
Mit Schlafbrille, Kopfhörern und Mundschutz gegen die tägliche Realität abgeschirmt, verschwindet einer der Tänzer zum Auftakt des Stücks im Bett. Die Einschlafphase wird begleitet von Alltagsgeräuschen, erzeugt durch den über dem Tanzraum thronenden Musiker Jay Rope. Bald setzen sphärische Klänge ein, und aus den verborgenen Türen des Unterbewusstseins tauchen merkwürdige Wesen auf.
Das ist manchmal unheimlich, etwa wenn eine Horrorgestalt mit böser Clownsmaske und Totenhemd wie ein Wächter der Unterwelt bewegungslos auf der Bühne steht. Oder wenn sich verdrehte Körper und animalisch anmutende Wesen à la Hieronymus Bosch auf der Bühne tummeln. Oft bringen einen die wunderlichen Gestalten mit ihrem Slapstick aber auch zum Lachen. Finger, die sich wie Tausendfüßler bewegen, Hinterteile, die wie Hunde mit dem imaginären Schwanz wedeln: Es sind nicht die großen Sprünge, sondern die Vielfältigkeit an möglichen Bewegungen der Gliedmaßen, die die TänzerInnen hier zeigen
Geschöpft wird reichlich aus dem symbolischen Repertoire von Popkultur und Kunstgeschichte. Dorische Säulen rahmen den Bühnenraum ein, ihre bedrohliche Schräglage gehorcht nicht mehr den Gesetzen der Physik. Das schwarz-weiße Muster des Bodens erinnert an die grafischen Metamorphosen des niederländischen Künstlers M. C. Escher, der mit optischen Tricks und unmöglichen Figuren arbeitete.
Und es wird aus dem Kanon der Surrealisten zitiert, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts künstlerisch mit dem Unbewussten auseinandersetzen. Besonders die Absurdität der Traumwelten beschäftigte sie, denn hier vermuteten sie die Wurzeln des Unterbewusstseins und der Kreativität. Im Stück von Samir Akika erinnert das Gesicht, welches wie durch Zauberei unter einem Melonenhut hervorschwebt, an René Magrittes Gemälde „Der Pilger/Le Pèlerin“ von 1966. Und diese Krücke, auf die Tänzer Antonio Stella sein grinsendes Gesicht ablegt, ist sie nicht den Gemälden Dalís entsprungen? Lassen sich die Gummibrüste und die Babypuppe in der Hand als Freud’sches, frühkindliches Sexualsymbol lesen?
Es sind jedoch vor allem die Kostüme von Nanako Oizumi, die im Mittelpunkt des Stücks stehen, während die Körper der TänzerInnen sich eher dahinter verstecken. So tragen sie Masken aus Zähnen, Stacheln, Blumen oder turmhohen Stoffwolken über dem Kopf, die den exzentrischen Kreationen den britischen Modedesigners Alexander McQueen nachempfunden sein könnten.
Fast geriete das zu einer oberflächlichen Fashionshow, wenn es in „Akika X“ nicht genau um diese Täuschung des Selbst ginge, um die Illusionen der Einbildung und des Eingebildet-seins. Neunfach taucht plötzlich das Gesicht von Tänzer Antonio Stella als Maske auf den Gesichtern der anderen TänzerInnen auf, ein Verwirrspiel der gespaltenen Persönlichkeit beginnt. „A different kind of me“ singt Tänzer Janis Heldmann passenderweise gleich zum Einstieg des Stücks. Und so schwankt das postmoderne Subjekt orientierungslos zwischen den unendlichen Möglichkeiten des Seins. Vergeblich scheint die Suche nach einem kohärenten Selbst. Doch der postmoderne Individualismus bringt auch einen beispiellosen Ich-Kult hervor. Denn nach dem verwirrenden Maskentanz lässt sich das tänzerische Ego Stellas vor seinem eigenen, multiplizierten Gesicht wie einen Star feiern.
Erwartungen an eine dynamisch mitreißende Choreografie wie in Akikas vorheriger Produktion „Belleville“ von 2014 oder im auslaufenden Stück „NEXTtoME“ von Máté Mészáros werden nicht erfüllt. Doch es lohnt, sich auf die andersartige Inszenierung und die „Erweiterung des Blickapparats“, wie Dramaturg Gregor Runge sagt, einzulassen.
Nächste Termine: 8., 11. und 16. November, 20 Uhr, Theater am Goetheplatz, Kleines Haus
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