: Horten war gestern
Wenn zwei Welfenprinzen sich von einem Teil ihres Besitzes trennen und zum House Sale auf ihre Burg laden, gilt das Motto: Eilenden Schrittes durch die Jahrhunderte
VON REINHARD KRAUSE
Von Hildesheim bis kurz vor Nordstemmen strahlender Sonnenschein. Doch prompt beim ersten Hinweisschild „Sotheby’s Marienburg“ ziehen wieder dunkle Regenwolken auf. Vor imposanten Wolkenbatzen ragt die Marienburg auf, wildromantisch gelegen auf einem bewaldeten Berg in ansonsten eher flacher Landschaft. Das Schloss, erbaut 1858 bis 1867 als Sommerresidenz von Königin Marie, der letzten Königin von Hannover, sieht entfernt aus wie Neuschwanstein, allerdings ein Neuschwanstein für Protestanten. Zwanzig Kilometer südlich von Hannover wirkt nichts zuckrig. Wenn Neuschwanstein die ideale Kulisse für einen Schneewittchenfilm abgibt, ist die Marienburg der perfekte Set für die böse Stiefmutter.
Im Innenhof der Burg hat Sotheby’s ein großes Zelt aufgebaut, auf dem Podium sitzt ein adäquat blaublütiges Begrüßungskomitee. Die Hauptfiguren des Tages sind: Philipp Herzog von Württemberg, Geschäftsführer von Sotheby’s Deutschland, und Christoph Graf Douglas von der Dr. Christoph Graf Douglas Kunstberatung, seit Jahren mit Sotheby’s eng verbunden. Der Graf war schon maßgeblich beteiligt an der spektakulären Auktion bedeutender Kunstschätze aus dem Hause Thurn und Taxis auf Schloss Emmeram im Jahr 1993. Ein Fachmann für hochherrschaftliche House Sales. Mit denen trotzt der Kunstmarkt allen Abwärtstrends. Mit gediegener Provenienz wird bei Vor-Ort-Versteigerungen aus jeder Antiquität ein Objekt der Begierden. Rückgänge, unverkaufte Losnummern, dürfte es auch in den nächsten Tagen auf der Marienburg nicht geben.
Auftraggeber der Versteigerung sind Ernst August, Prinz von Hannover, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, 22, und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Christian, ebenfalls Prinz von Hannover et cetera, beides Söhne von Ernst August, Chef des Hauses Hannover, Gemahl von Prinzessin Caroline. Von den Prinzen allerdings ist keiner erschienen. Fotografieren ist der Presse heute ausdrücklich gestattet.
Der Graf ist von der schnellen Truppe. Nach einer knappen Einführung in die Historie des Hauses Hannover und der Burg (siehe Randspalte nächste Seite), umreißt er das Besuchsprogramm: Zum Aufruf kommen über 4.000 Lose mit mehr als 20.000 Kunstgegenständen, präsentiert fast im gesamten Schloss – in sage und schreibe 130 Räumen. „Das müssen wir schnell machen“, sagt der Graf. Wie schnell, das verrät er auch: Mit ihm als Führer könne man sich in zwanzig, nun gut, dreißig Minuten einen ersten Überblick verschaffen. 130 Räume in 30 Minuten – ungläubige Heiterkeit kommt auf unter den Journalisten, aber der sportliche Ehrgeiz ist angestachelt.
Schon hat der Graf die paar Stufen zur Eingangshalle des Schlosses erklommen, kurz dreht er sich noch einmal auf dem Absatz um, schwenkt routiniert einen Ordner mit den Presseinformationen – „Mir nach!“ –, und schon ist er verschwunden. Los geht’s.
Der erste Saal ist eine hohe Empfangshalle mit doppeltem Treppenhaus, alles neugotisch, wie das gesamte Schloss. Nur ist das originale Inventar für die Dauer der Auktion ausgelagert worden. Nach der Versteigerung (angepeilt ist ein Erlös von 12 Millionen Euro) soll sich die bislang im Dornröschenschlaf dösende Marienburg in Originalpracht zeigen und zu einer Touristenattraktion mausern. Damit findet die Nachkriegszeit auch auf dem Schloss ein Ende: Seit 1945 waren hier die hannoverschen Besitztümer aus der SBZ eingelagert und staubten vor sich hin.
Über den Köpfen der Eintretenden hängen leicht ramponierte Feldfahnen der Hannoveraner, doch kaum hat man Zeit, die britische Flagge dazwischen auszumachen. Schon muss man weiter, dem längst entschwundenen Grafen hinterher. Gemälde hängt neben Gemälde, alle zum Verkauf freigegeben, im Vorbeieilen kann man aus dem Augenwinkel gerade mal feststellen, dass sie aus verschiedenen Jahrhunderten stammen. Weiter, weiter. Jetzt ein Saal mit Unmengen an Waffen und Ritterrüstungen. Die passen gut zum neugotischen Dekor, auch wenn das Schloss nie Raum für Militärisches bot. Keine Zeit, keine Zeit. Bereits nach fünf Räumen und drei Minuten Führung wünschte man sich etwas mehr Muße.
Ahs und Ohs, aber schnell weiter, dem Grafen hinterher. In jedem der unzähligen, eher kleinen Räume und Kabinette steht eigens ein Sotheby’s-Mitarbeiter parat. Aufmerksame, dienstbare Gesichter allenthalben. Lächeln nach rechts, Lächeln nach links. Tempo, Tempo. Noch ein Treppenhaus, und da ist schon wieder eins. Jetzt bloß nicht verlaufen, denn im Katalog heißt es: „Die innere Aufteilung des Schlosses ist sehr komplex. Falls Sie einen Raum ein zweites Mal besichtigen möchten, ist es empfehlenswert, mit Hilfe der Wegweiser zum Haupteingang zurückzukehren und dann die Tour noch einmal zu wiederholen, bis Sie bei dem gewünschten Raum angelangt sind.“ Sind wir hier bei Mensch, ärgere dich nicht? Weiter, weiter.
Ein Porträt bietet ersten Stoff für spöttische Bemerkungen. Ob Mann oder Frau, wer weiß es genau? Schwer zu sagen, denn gut die Hälfte des Gesichts ist von der Leinwand abgeblättert – ein reiches Betätigungsfeld für einen Restaurator oder gleich ein ganzes Team. Weiter. Wo mag der Graf inzwischen sein? Hoffnungslos, ihm noch nacheilen zu wollen. Genauso gut kann man auch das Tempo drosseln.
Das trifft sich gut, denn plötzlich nimmt die Aussicht aus einem der unzähligen Schlossfenster gefangen. Ein unverhofft romantisches Panorama. Der Blick geht nach Süden, bis weit in die Ferne; im Mittagslicht glitzern die Leine und ein paar kleine Seen. Erste Burgfräuleinfantasien kommen auf. Ein Mitarbeiter mit Sinn für die dekorative Geste hat vor dem Fenster mit dem fulminanten Ausblick ein Regal mit Riesenmuscheln aufgestellt.
Wenige Räume weiter eine neue Entdeckung: eine Polstergruppe im Stil Louis-Philippe, allerdings bezogen mit einem giftgrün geblümten Dekostoff der späten Sixties, der ein wenig an Prilblumen erinnert (Los 3112, Schätzpreis 2.500 bis 3.000 Euro). Eine distinguierte Kollegin mit silberblonder Frisur lässt die amüsierten Besucher wissen: „Das ist exakt der Geschmack von Ernst August. So isser.“ Sie wirkt sehr bestimmt. Und recht abschätzig. Dabei hat das Ensemble etwas sehr … Souveränes. Wer will schon immer im Vintage-Look wohnen, als Sklave einer wenn auch königlichen Vergangenheit?
Nach einer halben Stunde und kaum der Hälfte der Räumlichkeiten ist das Auge geübt darin, die seltenen Schilder mit der Aufschrift „Not for sale“ aufzutun. Da, die beiden wunderbar rostigen Emailwandlampen in Muschelform! Die würde man selbst behalten wollen – und bekäme auf dem Flohmarkt wohl auch nicht viel dafür. Aber wie stimmungsvoll sie sind. Oder dieser Widderkopf: Neben dem Porträt von Königin Sophie Dorothea wirkt er fast surrealistisch. Die Königin kann man kaufen, den Widder nicht. So kann’s kommen.
Weiter geht es durch Räume mit Uniformen, Räume mit Speiseservicen, Räume voll Glas, Räume voll Silber, voll Waffen. Die reinste Materialschlacht. Ah, da vorne steht ja auch wieder der Graf, umringt von einer Traube Journalisten. „Von der ganzen Horterei“, sagt er gerade, „halte ich gar nichts! Sollen denn all diese Schätze weitere fünfzig oder hundert Jahre eingelagert bleiben und von niemandem angesehen werden?“ Den Vorwurf, die Welfen betrieben einen Ausverkauf ihrer Geschichte, lässt er nicht gelten: „Der verbleibende Besitz an Kunst ist gigantisch.“ Außerdem habe die Auktion der großherzoglichen Sammlungen von Baden-Baden gezeigt, dass weit mehr als die Hälfte der Lose in der Region verbleiben. Für Kunstgegenstände von nationalem Rang gebe es ohnehin ein Ausfuhrverbot.
Sotheby’s spricht in britischem Understatement davon, „Teures und Erschwingliches, Kurioses und Charmantes“ unter den Hammer zu bringen. Dass die Quote an Teurem und Einmaligem hinreichend hoch sein muss, um ein internationales Publikum anzulocken und das Haus Hannover nicht als stillos dastehen zu lassen, versteht sich. Als erste Gerüchte über die Auktion aufkamen, so wird getuschelt, froren einige Kustoden großer Museen ihre Ausgaben für das laufende Geschäftsjahr ein, um beim Eventkauf auf der Marienburg liquide zu sein.
Nun hinauf in die Dachräume. Dies hier scheint die Wäschekammer zu sein, auch wenn sie eher aussieht wie die Auslieferungsstelle von Karstadt: Die Regale ächzen unter dutzenden dunkelblauer Plastiktüten mit „Sotheby’s“-Aufdruck. Ob man sich wohl das im Katalog annoncierte 17 Meter lange Tischtuch zeigen lassen könnte? „Aber selbstverständlich“, heißt es sofort. „Auch das 22 Meter lange.“ Die Tüte mit Los 4077 (Schätzpreis 2.000 bis 3.000 Euro) wird geholt. 60 Quadratmeter schweren Leinens passen also in eine handelsübliche große Kaufhaustüte. Gut zu wissen. Ob es bei so einem riesigen Tuch wohl eine Naht gibt, oder ist es in einem Stück gewebt? Schon machen die Sotheby’s-Leute Anstalten, das Monstrum zu entfalten. Stopp, stopp! Hinterher passt es womöglich nicht mehr in die Tüte. Immerhin so viel lässt sich sagen: Das gute Stück hat Stockflecken.
In der Ecke steht eine Wäschetruhe, und darüber hängt ein Damenporträt in einem ramponierten Rahmen. „Das ist Königin Marie, wie sich erst vor kurzem herausgestellt hat“, erläutert die Sotheby’s-Mitarbeiterin beim Zusammenfalten des Tischtuchs. Die Königin Marie, für die das alles hier überhaupt gebaut wurde – und jetzt hängt sie in der Wäschekammer. „Nein, nein“, heißt es entschuldigend, „für sie wird in den nächsten Tagen noch ein repräsentativerer Platz gesucht.“ Kurz vor Auktionsbeginn gab es eine ganze Reihe solcher Entdeckungen. Als sich etwa herausstellte, dass eine Jacke mit Schottenmuster, Los 3918, 1822 von König Georg IV. bei seinem Antrittsbesuch in Schottland getragen wurde, stieg der Schätzpreis von lumpigen 400 bis 600 Euro auf royale 10.000 bis 15.000 Euro.
Beim Mittagsbuffet setzt sich Philipp Herzog von Württemberg mit an den Tisch, äh, die Tafel. „Welche Sprache wird hier gesprochen? Deutsch? Gut, dann Deutsch.“ Über der Vorspeise – Sülze aus Spanferkelrücken – werden Lieblingsstücke diskutiert. Was er überhaupt nicht ausstehen könne, sagt der Herzog aufgeräumt, bevor er an einen anderen Tisch aufbricht, seien Schlossführungen. Vor allem solche, bei denen einem erklärt wird, wie viele Fenster das Gebäude hat. Allein auf Entdeckungstour zu gehen sei das Beste. Recht hat er.
Und genau dazu gibt es hier reichlich Gelegenheit. Die Kellerräume mit dem Küchentrakt und den Bergen an unedlen Porzellanen und Gläsern sind etwas enttäuschend, dafür entpuppen sich die Dachböden als wahr gewordener Kindheitstraum. Toll, was die Welfen alles nicht weggeworfen haben! Und hatten sie nie einen Hausmeister, der sich um lädierte Stühle zu kümmern hatte? Auf manchem Polstermöbel würde man allerdings nur sehr ungern Platz nehmen. Wohl auch deshalb darf man hier nach Herzenslust stöbern, ganz ohne Sotheby’s-Begleitung. Besonders hübsch: ein Raum nur mit Stühlen, die zu Schlitten umgearbeitet worden sind. Und dann liegen da plötzlich chinesische Tapeten auf dem Dachboden herum – ob das die sind, die im Katalog vierstellig veranschlagt werden?
Schade, dass man nicht noch mehr Zeit zum Stöbern hat. Wo zum Beispiel befindet sich die Truhe (Los 3901, Schätzpreis 8.000 bis 12.000 Euro), in deren Deckel ein prosaisches Gemüt vor vielen Jahrzehnten das Wort „Stoffreste“ geschnitzt hat? Immerhin stammen die „Stoffreste“ aus dem 12. bis 15. Jahrhundert, sind wunderschön und dienten einst dazu, den berühmten Welfenschatz zu schützen. Oder die beiden Kesselpauken aus Silber (Los 1171, 100.000 bis 200.000 Euro)? Oder die beiden grandiosen Delfter Tulpenvasen aus dem 18. Jahrhundert, die 125 Zentimeter groß sind und aussehen wie Kirchturmspitzen (Los 944, 80.000 bis 120.000 Euro)? Zu Spät!
Gut, ein letztes Los noch, zurück in den Rittersaal. Da ist er ja, der Helm aus dem frühen 16. Jahrhundert, dessen Visier ein vollplastisches, böse blickendes Gesicht zeigt (Los 320, nur 4.000 bis 6.000 Euro!). Der Träger dieser Maske hat sicher nie kämpfen müssen, die Gegner fielen bestimmt gleich vor Entsetzen um. Könnte man den theoretisch aufsetzen oder ist das nur ein Schaustück? Den Herrn von Sotheby’s interessiert das jetzt auch. Das ist der Vorteil einer Auktion: Alles darf man genau in Augenschein nehmen. Mit Baumwollhandschuhen untersucht der Mitarbeiter den Schließmechanismus, aber er bekommt den gruselig schönen Helm nicht auf. Macht gar nichts. Das Ding nicht mehr von Kopf zu bekommen wäre auch ein Albtraum.
In Serpentinen geht es wieder abwärts zur Leine. Am Horizont ein Regenbogenstumpf, nicht mal einen Viertelbogen lang, aber von beeindruckender Breite. Schon schön hier.
Die Auktion findet noch bis zum 15. Oktober statt. Ein Onlinekatalog ist einsehbar unter www.sothebys.com/hannover REINHARD KRAUSE, 44, ist taz.mag-Redakteur