: Kollektive Marktwirtschaft
Experimente mit Themen und Organisationsformen: Anschlaege.de, eine Gruppe Kommunikationsdesigner der Kunsthochschule Weißensee, geht doppelt neue Wege
Nicht nur der Sewansee, ein von erloschenen Vulkanbergen des Kaukasus umringter See in Armenien, ist weit weg von Berlin-Mitte, sondern auch die Sewanstraße. Eine knappe Dreiviertelstunde ist man mit den Öffentlichen unterwegs ins östliche Lichtenberg, in den Berliner Kaukasus sozusagen. Bis hierher ist die Karawane des „Neuen Berlin“ nicht gekommen. Oder doch?
Steffen Schuhmann führt durch einen leer stehenden Kindergarten aus den Siebzigerjahren, den seine Gruppe „anschlaege.de“ zusammen mit Modedesignern, Architekten und Stadthistorikern wieder flottmachen will. Das Gebäude haben sie vom Bezirk bekommen und eine Aufgabe gleich dazu. Sie sollen die Potenziale für „Creative Industries“ in Lichtenberg ausloten. In Zeiten der Not ist jeder noch so kleine Gras- ein Strohhalm. Creative Industries in Lichtenberg, das klingt wie Friedensbewegung im Kaukasus. Oder doch nicht?
Bei anschlaege.de ist alles möglich. Das neueste Projekt der Kommunikationsdesigner von der Kunsthochschule Weißensee, zu denen neben Steffen Schuhmann noch Axel Watzke und Christian Lagé gehören, nennt sich „Verbündungshaus“. Deutsche und polnische Studenten der Viadrina sollen in Frankfurt (Oder) ein Haus fit machen. Ein Geschenk von der Stadt. Anschlaege.de soll das Ganze begleiten. Kommunikationsdesign, sagt Steffen Schuhmann vielsagend, kann alles sein. Auf ihrer Homepage heißt das: „Regelmäßiger Unsinn hat normative Kraft.“
Den Auftrag in Frankfurt haben Schuhmann (27), Watzke (30) und Lagé (29) an Land gezogen, weil sie ähnlichen „Unsinn“ bereits einmal organisiert haben. „Dostoprimetschatjelnosti“ hieß das damals und war der Versuch, Künstler aus vielen Ländern in einen leer stehenden Plattenbaubau in Hellersdorf einzuladen. Das Projekt war ein großer Erfolg und hat anschlaege.de eine Homestory im Lifestylemagazin der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza gebracht. „Plattenbau als Pop, das funktioniert vielleicht noch bis zum Platz der Vereinten Nationen“, sagt Schuhmann. „Dahinter wird es ernst.“ Das hat man sogar in Warschau begriffen.
Und so fühlt sich der Ernst an: Im Flur der Sewanstraße 122 stapeln sich die Baumaterialien, einige Räume sind schon bezogen, eine Mitstreiterin, eine Modedesignerin, hat bereits ihre Kollektion nach Lichtenberg geschafft. Ein Kindergarten im Plattenbaugebirge als neuer Ort zum Arbeiten. Das ist tatsächlich „Creative Industrie“, wenn auch vorerst im Singular. Und dennoch: Die Sewanstraße im Großen ist damit, was anschlaege.de im Kleinen ist – ein Ort der kollektiven Marktwirtschaft.
Denn neue Wege gehen Schuhmann, Watzke und Lagé nicht nur räumlich, sondern auch wirtschaftlich. Der Kapitalismus ist ihnen – anders als bei den Westberliner Kollektiven der Achtzigerjahre – nicht verhasst, sondern vertraut. „Auf Ich-AG und das ganze Zeug haben wir aber keine Lust“, sagt Schuhmann. „Also versuchen wir es zusammen.“ Soll heißen, Solokarrieren sind ausgeschlossen. „Keiner von uns zeichnet mit seinem Namen, alle sind wir nur anschlaege.de.“ Man kann auch sagen: In der Sewanstraße hat sich eine äußerst erfolgreiche Wir-AG zusammengefunden.
Und eine, die sich die Zukunft zum Thema macht. In Gera, wo Steffen Schuhmann aufgewachsen ist, sollen in leer stehenden Plattenbauten bald Pilze gezüchtet werden, Edelpilze natürlich. „Wir haben der Wohnungsbaugesellschaft vorgerechnet, dass das ökonomisch sinnvoller ist als der Abriss“, sagt Schuhmann, nicht ohne Stolz. Creative Industries, das ist nicht nur was für Lichtenberg, das macht auch vor Thüringen nicht Halt. Wozu das Ganze?
Steffen Schuhmann zögert, dann kommt die Antwort: Wir zeigen, dass man klar kommen kann. Klingt fast, als könnte man die kollektive Marktwirtschaft der Sewanstraße als Modell begreifen. Auf der Homepage von anschlaege.de steht: „Denken kann man auch bei Stromausfall.“ UWE RADA