Ein Hund, ein elender

Heruntergekommene Berufe. Heute: Der Theaterkritiker (Experte für Magengeschwüre)

Der Theaterkritiker hat ein grundsätzliches Problem: Er packt es einfach nicht

Haben Sie im Theater schon mal einen Hund gesehen? Selbstverständlich nicht. Das Mitführen von Hunden jedweder Rasse in ein Theater ist verboten. Und das ist auch sehr vernünftig. Denn der Hund gilt als natürlicher Feind der darstellenden Künste. Spätestens seit jenem denkwürdigen 8. Dezember 1875, als Alexander Ostrowskijs „Wölfe und Schafe“ in Sankt Petersburg zur Uraufführung kam. Den Titel allzu wörtlich nehmend, entwich die Lieblingsdogge Alexanders III. aus der Zarenloge, sprang auf die Bühne und biss – unbeeindruckt vom Geheul des entsetzten Publikums – dem Darsteller des schurkischen Wukol Tschugunow ein Bein ab.

Ein Hund gehört einfach nicht ins Theater. Er versteht die Handlung nicht, besitzt wenig Sitzfleisch und noch weniger Langmut, er bellt an den unmöglichsten Stellen oder drängelt mitten im entscheidenden Monolog durch die Reihen, um sein Wasser abzuschlagen. Noch schlimmer, ach was, schlechterdings untolerierbar ist sein Verhalten in der Pause. Der Hund sabbert am Tresen, zerbeißt das Programmheft; leckt Damen ungeniert die Beine und macht sich über die Buletten fremder Menschen her.

Das sei gar kein Hund, sondern ein Kritiker, sagen Sie? Das ist gemein und ungerecht. Wenigstens ein bisschen. Denn neben notorisch heruntergekommenen Berufsgruppen wie Sportreportern, Parteivorsitzenden oder Friseuren eignet der Abgehalftertheit des Kritikers etwas unausweichlich Tragisches. Mit anderen Worten: Sie liegt in der Natur der Sache.

Es beginnt damit, dass der Kritiker dem Kunstgenuss eben nicht freiwillig, sondern auftragsgemäß beiwohnt. Sie, verehrter Leser, gehen ins Theater, der gemeine Kritiker geht zur Arbeit. Entsprechend gleicht seine Gemütsverfassung jener des gewöhnlichen Pendlers, welcher des Morgens die Hand an der Hupe und Tollwut im Blick dem Großraumbüro zustrebt.

Und was erwartet ihn dort? Intrigen und Mobbing, Besserwisserei und Größenwahn, Aufschneider, Neurotiker und Amokläufer, mithin die stets gleiche und ernüchternde Erkenntnis: „Der Mensch ein Dreck, sein Leben ein Gelächter“ (H. Müller, „Macbeth“). Nur, der Kritiker soll auch noch darüber schreiben. Jeder Arbeitnehmer hielte Sätze wie „Prokurist Melzig wieder glänzend disponiert“, „Frau Sack gab die Chefsekretärin mit dem dämonischen Weltekel einer Hedda Gabler“ oder „Fehlbesetzt wie so häufig in letzter Zeit Abteilungsleiter Schmitz als fröhlicher Alter“ für groben Unfug. Ist es da ein Wunder, das der Kritiker oft grämlich wirkt, erbsenzählerisch oder abwesend, so als wäre er gar nicht da gewesen?

Oft hat er aber einfach nur Bauchgrimmen oder ein Magengeschwür, das proportional zur Anzahl seiner Theaterbesuche wächst und wächst und wächst. Ein klarer Fall von Übersättigung. Das Max-Planck-Institut hat errechnet, dass während eines durchschnittlichen Kritikerlebens 637 Hamlets, 599 Nathans, 475 Zerbrochene Krüge, 302 Wildenten, 248 Wallensteine und dreimal der gesamte Faust zu verdauen sind. Ganz zu schweigen von den faden „Textflächen“ (E. Jelinek) zeitgenössischer Sauertöpfe. Das geht auf keine Kuhhaut und erklärt die notorische Übellaunigkeit des Kritikers.

Andererseits klagt der Kritiker selten. Das macht ihn zwar fast schon wieder sympathisch, ist aber schierem Eigennutz geschuldet. Brächte er die Wechselwirkung von Beruf und Depression gegenüber seinem Chefredakteur zur Sprache, droht ihm nämlich das Schlimmste: Verständnis. Respektive die Versetzung in die Sport-, Lokal- oder – horribile dictu – in die Service-Redaktion. In diesen Brutstätten kalter, ergebnisorientierter Rationalität könnte der Kritiker nicht überleben. Fakten, Tabellen, Rankings und Umfrage-Ergebnisse, die Hardware des modernen journalistischen Dienstleistungsgewerbes, sind ihm ein Gräuel. Denn der Kritiker imaginiert sich gern als tollkühner Äquilibrist hoch über den Schluchten des Geworfenseins, als Deuter menschlicher Irrungen, als geschliffene Edelfeder und Hobby-Philosoph. Kurz: Recht eigentlich ist der Kritiker zum Dichter geboren.

Sein angestammtes Metier wäre der Essay, das Drama, die Novelle, das Epigramm oder wenigstens die geschliffenen Satire. Doch der Kritiker hat ein grundsätzliches Problem: Er packt es einfach nicht. Wie oft sah ihn die Gattin nächtens dahocken, wild entschlossen, den Laptop diesmal tatsächlich mit Hemingway’schem Stakkato zu traktieren, den Jahrhundertroman herauszuhauen oder wenigstens ein genialisches Fragment, um endlich das „umhurte Wort“ (P. Celan) in „Glück, Glanz, Ruhm“ (R. Gernhardt) zu verwandeln.

Aber ach, nach drei Stunden Grübelei, einer Packung Marlboro, acht Wodka und fünf Weizen geht es ihm wie Arnold Hau, der befeuert von einer Pille LSD nur einen ernüchternden Zweizeiler zusammenbrachte. „Komm doch ran, Dschingis Khan.“

So bleibt der Ritt auf Phönix’ Schwingen nur ein „Sommernachtstraum“ und der Kritiker, was er immer war: ein ganz armer Hund. MICHAEL QUASTHOFF