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Archiv-Artikel

„Lebensmüde reisen nicht“

Der Psychiater Werner Felber hat viele Suizid-Überlebende betreut. Er ist für das Recht auf selbstbestimmtes Sterben – der Staat solle den Freitod allerdings nicht fördern. Den Sterbeverein Dignitas hält Felber für überschätzt

Interview HEIDE OESTREICH

taz: Herr Felber, können Sie sich eine Situation vorstellen, in der Sie nicht mehr weiterleben wollten?

Werner Felber: Das kann ich für die Zukunft nicht sicher beantworten.

Ausschließen würden Sie es nicht?

Nein, ich halte es aber auch nicht für wahrscheinlich. Ich habe als Vorsitzender der Gesellschaft für Suizidprävention eine gewisse Pflicht. Wenn Sie Chef einer Nichtraucherkampagne sind, können Sie auch nicht Kette rauchen.

Sie würden anderen Menschen aber zugestehen, dass sie sagen: Jetzt reicht’s, jetzt möchte ich gehen.

Generell ja. Aber es gibt so viele Einzelschicksale, dass eine allgemeine Antwort quasi unmöglich ist. Auf keinen Fall würde ich daraus eine rechtliche Regelung des Suizids ableiten. Denn das würde voraussetzen, dass es sich regelmäßig um einen wirklichen „Freitod“ handelt. Leider sind die Menschen, die sich töten, nach meiner Erfahrung meistens doch nicht frei in diesem Sinne, sondern in einer schweren Krise.

Aber es gibt für Sie, ähnlich wie für Herrn Minelli von Dignitas, ein Menschenrecht auf den eigenen Tod?

Ja, es gibt dieses Menschenrecht, das ist einfach in der modernen Welt nicht anders denkbar. In einer säkularisierten Welt kann man diese Entscheidung nicht mehr für ein Verbrechen halten. Selbst die Kirche ist ja davon abgerückt.

Dignitas leitet daraus ab, dass der Staat einen angenehmen Tod nicht verwehren darf.

Das kann ich nicht nachvollziehen. Menschen haben auch das Recht, sich hemmungslos zu betrinken. Aber man muss noch lange keine Betrinkräume einrichten, um das angenehm zu machen. Man hat das Recht auf Suizid, aber der Staat hat nicht die Pflicht, diesen Suizid schön zu gestalten.

Dignitas hat angeblich eine Klage auf Herausgabe eines tödlichen Medikaments vor dem Verwaltungsgericht Köln eingereicht. Wie schätzen Sie die Aussichten ein?

Wenn ich in einer solchen Entscheidung zu Rate gezogen würde, würde ich sagen: Mit ärztlicher und staatlicher Hilfe geht das nicht. Jeder darf sich das Leben nehmen. Medikamente werden aber hergestellt, um Leben zu erhalten. Und Ärzte arbeiten, um Leben zu retten, und nicht, um den Tod herbeizuführen. Das kann man nicht umdrehen.

Minelli argumentiert, dass es schwer ist, eine sichere Todesart zu finden. Barbiturate werden kaum noch verschrieben, das Hausgas ist entgiftet und wirkt nicht mehr tödlich.

In Minellis Gedanken ist das ein Problem, das stimmt. Es wird einem nicht leicht gemacht. Genau das halten wir von der Suizidprävention für sehr erfreulich. In Sachsen hat sich die Suizidrate halbiert, als das Stadtgas nicht mehr als Mittel zur Verfügung stand. Schließlich ist meine Erfahrung, dass die meisten Menschen wieder aus dem Todeswunsch herausfinden.

Halten Sie Menschen mit Todeswunsch generell für depressiv?

Wenn man nach Suiziden eine so genannte psychologische Autopsie macht, also eine Recherche über den psychischen Zustand der Person, dann stellt sich heraus, dass über 90 Prozent an einer psychiatrischen Erkrankung litten. Das ist ja eines der Probleme mit einer Gesellschaft wie Dignitas: Solche Laieneinrichtungen können das nicht diagnostizieren. Ein Psychiater dagegen muss Menschen eventuell sogar gegen ihren Willen in die Klinik einweisen. Weil bestimmte Erkrankungen den freien Willen so beeinträchtigen, dass man die persönliche Freiheit vorübergehend einschränken muss.

Genau deshalb machen wohl auch einige Menschen, die sich töten wollen, einen Umweg um Psychiater, die ihnen diese Freiheit nehmen können.

Ja, es gibt Menschen, die diesen Weg nicht finden. Aber ich sehe etwas anderes: Wir haben in Dresden die älteste Suizidbetreuungsstelle Deutschlands. Und da kann ich zu Tausenden Leute sehen, die später mit Blumenstrauß wiederkommen und sagen: Wenn Sie damals nicht gewesen wären!

Minelli argumentiert andersherum: Die Psychiater nähmen den Todeswunsch nicht ernst – und damit fühle der Klient sich entmündigt und vertraue ihnen nicht mehr. Bei ihm hingegen reisten die Menschen in Scharen wieder lebend nach Hause, weil er ihren Wunsch respektiere.

Das ist eine Konstruktion: Minelli baut sich einen Popanz, um den dann zu bekämpfen. Er unterstellt uns eine Art „militante Suizidprophylaxe“, die dem Patienten ein schlechtes Gewissen macht. Das ist aber nicht der Fall: Wir nehmen den Menschen ernst, so wie er ist. Parallel dazu schaue ich, ob hinter dem Argument eine Depression steckt. Dann muss ich eventuell sagen: Ich kann auf Ihr Argument nicht eingehen, ich muss Sie behandeln. – Sonst könnten mich sogar die Angehörigen in Haftung nehmen, wenn der Klient sich etwas antut.

Und was tun Sie, wenn Sie keine Depression vorfinden?

Das muss man konkret sehen. Da war etwa eine Achtzigjährige, der beide Beine amputiert werden sollten. Sie hatte immer Schmerzen und wollte diesen Eingriff nicht mehr ertragen. Sie hat einen Suizidversuch gemacht – und sie war nicht depressiv. Ich habe zu ihr gesagt, dass wir sie begleiten können, solange sie es will. Eine Sozialarbeiterin ist mehrmals die Woche hingegangen und hat sie unterstützt. Das war die Wende. Sie sagte: Ich hätte nie gedacht, dass es Menschen gibt, die sich so um mich kümmern. – Am Ende hat sie sich ihre Beine amputieren lassen und immerhin noch fünf Jahre gelebt.

In der Schweiz bekommt man Hilfe, wenn man sich töten möchte. Aber die Suizidrate ist nicht massiv höher als in Deutschland. Machen die Sterbeagenturen nur Selbsttötungen leichter, die ohnehin stattfänden?

Meiner Ansicht nach erreichen die Schweizer Organisationen wie Dignitas eine andere Klientel als die wirklich Suizidgefährdeten. Es gibt eine Reihe von Menschen, die Angst davor haben, dass die Mediziner sie, wenn sie todkrank sind, nicht sterben lassen wollen. Sie wollen sicher sein, dass man ihnen im Ernstfall hilft. Wirklich Lebensmüde treten nicht unbedingt erst einem Verein bei und organisieren eine Reise in die Schweiz, wäre meine These. Ich habe mit etwa 4.000 Suizidpatienten gearbeitet, das ist eine ganz andere Klientel.

Dann ist Dignitas für die Gruppe der Schwerkranken, die Angst vor dem Siechtum haben, also doch eine segensreiche Einrichtung?

Überlegen Sie, was Sie lieber hätten: In Ihrer gewohnten Umgebung oder in einem schönen Hospizzimmer mit den Angehörigen und einer guten Schmerzmedizin auf den Tod warten – oder in die Schweiz reisen, in einem fremden Zimmer liegen und von Menschen, die Sie nicht kennen, einen Giftbecher gereicht bekommen. Ich würde die erste Variante vorziehen.

Wenn die Alternativen so wären, würde niemand in die Schweiz reisen. Offenbar ist Option eins nicht so angenehm, wie Sie sie beschreiben.

Die Palliativmedizin, die Schmerzmedikation am Lebensende, ist noch etwas unterentwickelt. Man hat lange gezögert, Opiate in einer Dosis einzusetzen, die zwar wirkt, aber auch das Leben verkürzt. Die Debatte ist schon geführt, nur hinkt die Praxis noch hinterher. Ich denke, wenn die Palliativmedizin diesen Vorstoß von Dignitas aufgreift und besser wird, dann erledigt der Verein sich von selbst.

Ein Ziel von Dignitas ist es, den Freitod zu enttabuisieren. Ist das sinnvoll?

Der Suizid ist längst enttabuisiert. Dazu brauchen wir Minelli nicht mehr. Problematisch ist, dass er einseitig nur den Freitod betont. Der Freitod ist eben in 99 Prozent der Fälle kein Freitod.

Das niedersächsische Justizministerium sucht nach Wegen, dem Verein in Deutschland sein Treiben zu untersagen. Ist das gut?

Ich kann es verstehen. Diesen Sterbetourismus im Drei-Mann-Betrieb auch noch als Suizidprophylaxe zu bezeichnen, das ist lachhaft. Insofern ist der Verein ein öffentliches Ärgernis.