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Archiv-Artikel

DER PHALLUS IST ETWAS, VON DEM DIE KINDER ANNEHMEN, IHRE MUTTER BEGEHRE ES UND DER VATER BESITZE ES. SAGT LACAN Genosse Phallus grüßt von oben

VON ULRICH GUTMAIR

Penisse sind im öffentlichen Raum selten zu sehen, weibliche Brüste allerorten. Nun hat der Künstler Peter Lenk ein Figurenensemble an die Fassade der taz gehängt, in dessen Zentrum ein sechs Meter langes Ding steht. Das Relief interpretiert den uralten Penisverlängerungsartikel auf der Wahrheit-Seite vor sechs Jahren noch mal als Bildergeschichte. Dessen Verbreitung hatte Kai Diekmann der taz verboten, um ihn unlängst selbst auf seinem Blog zu veröffentlichen. Jetzt bilden sich vor dem Haus immer wieder kleine Menschentrauben. Die meisten scheinen sich über das Ding zu amüsieren. Ich bin Feminist und der festen Überzeugung, dass das Matriarchat ein Paradies gewesen sein muss. Deswegen regen mich Phallusdarstellungen auch nicht auf. Mich interessiert nur die Frage, was der Quatsch eigentlich soll.

Es ist nicht ganz unwichtig, in dieser Angelegenheit zwischen Penis und Phallus zu unterscheiden. Penis bezeichnet jenes erstaunliche Ding aus dem Reich der Biologie, das sich von einem verschrumpelten, etwas skurril aussehenden Anhängsel in ein prächtiges Organ verwandeln kann. Es dient dem profanen Zweck des Urinierens und dem erhabenen Ziel der Zeugung gleichermaßen.

Der Phallus dagegen ist unter anderem ein imaginäres Objekt, von dem die Kinder nach Jacques Lacan annehmen, ihre Mutter begehre es und der Vater besitze es. (Kai Diekmann hat ihn, Peter Lenk hat ihn nicht.) Deswegen wollen sich die Kinder in den imaginären Phallus verwandeln. Bis sie merken, dass das nicht geht. Diese Kastration müssen kleine Mädchen wie Jungen ertragen, um groß werden zu können, meint Lacan.

Der Mann mit dem Phallus hat nur weiße Socken und Slipper an. Sein Hodensack ist mächtig, sein Phallus erhebt sich bis fast unters Dach. Wobei er in den oberen Stockwerken eher einen schlangenhaften Eindruck macht. Patriarchin Friede Springer beschwört durch Flötenspiel die Schlange. Unten halten Figuren Tafeln mit Dada-Schlagzeilen von Bild: „Erstes Tor mit Penis geschossen“.

Ich denke, es hat überhaupt nur Sinn, das Ganze freudomarxistisch zu interpretieren. Also im Sinne einer Schule, die schon lange zuhat: Die Macht des kapitalistischen Meinungskonzerns, für die der Phallus des Bild-Chefs steht, basiert darauf, das Geschlechtsleben von Promis und Normalbürgern massenwirksam zu verkaufen. Die unterdrückte Sexualität in der kleinbürgerlichen Kernfamilie bringt brave Väter und Mütter dazu, sich am sexuellen und sonstigen Elend der Promis zu ergötzen. Sie kommen dadurch womöglich zum konterrevolutionären Schluss, dass es ihnen eigentlich ganz gut geht.

Das aber ist, wenn Lenk überhaupt so weit gedacht haben sollte, was nicht ausgemacht ist, als These nicht so ganz frisch. Hatte nicht schon der alte Wilhelm Reich in „Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ von 1932 erwartet, dass die Entwicklung im 20. Jahrhundert allmählich die sexualmoralische Zwangsregulierung beseitigen werde? Und leben wir heute nicht sogar in Zeiten, in denen perverse Transgressionen vom Establishment selbst organisiert werden, „to keep the market functioning and alive“, wie der Genosse Slavoj Žižek sagt? Dann zielt Lenks Phallus sowohl als Akt der Überschreitung der Grenzen von Sitte und Moral als auch mit seiner These haarscharf ins Leere.

Dafür spricht auch die am Freitagmorgen vor dem Haus verteilte „Sonderausgabe“, die sich vor allem an taz-Redakteure zu richten scheint. Der Fake im taz-Layout mit der Überschrift „Wir sind Schwanz“ spricht sich für die Erhaltung des Kunstwerks aus: „Muss das Ding wieder ab? Nein! Wir stehen wie ein Mann hinter der Aktion.“ Schon sprießen die Verschwörungstheorien, wer der Urheber des Fakes sei. Dabei ist die Sache doch klar. Wer außer dem Mann mit dem Phallus, der an unsrer Fassade so verehrt wird, sollte das wohl gewesen sein?