POLITIK Ein Interviewband mit Intellektuellen Lateinamerikas fragt, was aus den linken Regierungen geworden ist: In der Krise kommt das Herrische
Als Hugo Chávez 1998 in Venezuela an die Macht kam, finanzierte er mit den Gewinnen aus dem Ölexport das Bildungs- und Gesundheitswesen und Wohnungen. Die Profite, die vormals die Elite privatisiert hatte, flossen in Sozialprogramme. Mit Erfolg: Armut und Ungleichheit sanken. Chávez wurde zum Helden des globalen Antineoliberalismus, für manche Vorbote eines erneuerten Sozialismus.
2016 liegt der Chavismus in Trümmern. Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal, die Inflation abenteuerlich, die Korruption ungebrochen. Warum dieser Absturz? In erster Linie, so der venezolanische Soziologe Edgardo Lander, ist das eine Folge des rapide gesunkenen Ölpreises, von dem das Land komplett abhängig ist: 96 Prozent aller Exporterlöse stammen vom Öl. Zudem ist der Chavismus an sich selbst gescheitert. „Der Anfang vom Ende war die Proklamation des Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, so Lander kühl. Denn damit kappte der Chavismus seine anfänglichen basisdemokratischen Wurzeln und wandelte sich zum autoritären Regime, blind für eigene Fehler.
Das Interview mit dem hellsichtigen Edgardo Lander hat Ulrich Brand, Professor für internationale Politik in Wien, für den kleinen, feinen Band „Lateinamerikas Linke“ geführt. Das Buch enthält sieben Interviews mit durchweg regierungskritischen Intellektuellen von Nicaragua bis Brasilien, von Ecuador bis Argentinien. So entsteht, in erfreulich knapper, gut lesbarer Form, ein komplexes Bild der politischen Landschaft in Lateinamerika – in dem Moment, in dem die Vorherrschaft der Linken schwindet.
Brand präpariert in seinem gescheiten Vorwort (das leider im klapprigen Stil der akademischen Linken verfasst ist) und den Interviews heraus, was die Linksregierungen verbindet, die zwischen rabiat linkspopulistisch und sozialdemokratisch changieren. Alle setzen auf Rohstoffexporte, meist Öl, in Argentinien gigantische Mengen Soja. Der Preis ist ökologischer Kahlschlag, oft verbunden mit der Verdrängung von Bauern oder Indigenen. Das funktionierte, solange die Weltmarktpreise hoch waren und die Regierungen etwas zu verteilen hatten.
Im Moment der Krise kommt, von Bolivien bis Ecuador, ein anderer Zug der Linksregierungen zum Vorschein: das Herrische. Die linken Regierungen gehen gegen Proteste von Indigenen oder sozialen Bewegungen ähnlich ruppig vor wie ihre rechten Vorgänger. „Der Populismus gerät in eine autoritäre Phase“, so die argentinische Soziologin Maristella Svampa. Ein zentraler Fehler der Linksregierungen war es, einseitig auf die Ausbeutung von Rohstoffen zu setzen. Venezuela ist der besonders trostlose Beweis dafür, dass der „Öl-Sozialismus“ (Lander) eben keine nachhaltige Entwicklung schafft, dafür aber Korruption im Innern und Abhängigkeit nach außen.
Die Chance, so Brand, mit den Öldollars eine vom Rohstoffexport unabhängige Wirtschaft aufzubauen, wurde vertan. Zarte Ansätze, neue, eigenständige Wege jenseits von Ölexport und Monsanto zu probieren – Stichwort buen vivir –, kamen unter die Räder. Das Bild ist somit einigermaßen grau. Auch die linken Intellektuellen sind nach dem selbst verschuldeten Fall der populistischen Regierungen ratlos. Und die Rechte setzt an der Macht, wie in Argentinien, die Politik des Rohstoffexports forciert fort.
Stefan Reinecke
Ulrich Brand: „Lateinamerikas Linke, Ende des progressiven Zyklus? Eine Flugschrift.“ VSA Verlag, 2016, 118 Seiten, 11 Euro
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