: Johanna Wagners kleines Erbe
Johanna Wagner lebt mit ihrem Sohn, dessen Frau, der Enkelin und dem Urenkel in Sulmingen, einem Dorf in Oberschwaben, dem Outback Süddeutschlands. Kürzlich ist sie 100 Jahre alt geworden. Sie hat zwei Weltkriege erlebt, kleine und große Revolutionen, und doch war sie nie Teil davon
von Anna Hunger (Text) und Martin Storz (Fotos)
Johanna Wagner ist klein und schmal, sie hat feine Hände, mit sauberer Haut, die sich in Falten über die Knochen zieht, weich und trocken, und mit Flecken, die das Altern hinterlassen hat. Johanna Wagner ist übrig. Ihr Onkel ist gefallen im Ersten Weltkrieg, ihr Bruder im Zweiten, ihr Mann ist tot, ihre Freunde und Gefährten, der Dorfpfarrer, die Nachbarn sind gegangen, nach und nach und nach. Was bleibt, ist ein Ausruhen und Auslaufen, Langsamkeit in einer viel zu schnellen Welt, Erinnerungen, die verschwimmen in einem Konglomerat der Erlebnisse, die ein so langes Leben prägen.
Geboren ist sie an einem Frühlingstag im Mai 1912 vor 100 Jahren. Ludwig Borchard findet in diesem Jahr die Büste der Nofretete. Es sind die Jahre des Expressionismus, Franz Marc und Wassily Kandinsky sind Avantgarde. Forscher entdecken die Ozonschicht, noch denkt keiner daran, dass sie einmal ein Loch haben könnte. Es gibt noch keine Radios, keine Fernseher, keine Handys, es gibt Wetter ohne Klimakatastrophe, der Tango ist groß, gebügelt wird mit Kohlebügeleisen. Eines davon steht heute bei Johanna Wagner auf der Durchreiche. Das sei noch gar nicht alt, sagt sie. Man trägt Hut, noch jahrzehntelang, es ist eine langsame Zeit.
„Sind Sie zufrieden?“ – „Ja. Ich würde nichts anders machen.“ – „Haben Sie Angst vor dem Tod?“ – „Nein. Warum?“
Sie wächst in Sulmingen auf, bei Biberach. Jeden Samstag fährt sie mit den Eltern in den nächsten Ort, um Fleisch zu verkaufen, der Vater ist Metzger. Als sie sechs ist, sieht sie Soldaten aus dem ersten Weltkrieg zurückkommen, sieht Frauen am Bahnhof weinen, und ahnt noch nicht, dass sie selbst mal da stehen wird.
Mit 15 wird sie Hausmädchen in Altenstadt, dann in München. Sie schleicht sich als junge Frau durch die „Drückebergergasse“ an der SS-Ehrenwache vor der Feldherrnhalle vorbei, weil sie die Soldaten nicht grüßen möchte. Sie lebt in Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage, als Zimmermädchen bei einem Baron, es gibt Fotos von ihr, von einer hübschen junge Frau mit einem Kind auf dem Arm, drumherum steif stehend eine Familie, das Bild vergilbt, so groß wie zwei Briefmarken, mit fransigen Rändern. Sie hat Hitler gesehen, mehrfach, und Himmler, und einmal fehlten am Abend alle Knöpfe ihres Mantels, weil sie sich am Tag durch die Menge gekämpft hatte, um dem Führer zuzujubeln. „Die Frauen waren wie verrückt.“
Plötzlich ist wieder Krieg. Bomben auf Nürnberg. Ihr großer Bruder liegt im Lazarett in Münsterschwarzach, sie besucht ihn jede Woche, läuft immer samstags durch die brennende Stadt. Ihr kleiner Bruder fällt in Frankreich, kurz nachdem er ihr ein Päckchen Seide geschickt hat, für ihr Hochzeitskleid, und ihr Verlobter, der Franz, kennengelernt auf dem Fußballplatz, da stand sie immer am Rand, weil dort die hübschen Männer gespielt haben, ihr Franz im Sturm, ist gerade auf Heimaturlaub da und sagt, er hätte nie gedacht, dass es so schwer sein würde, einen Tod zu verkraften.
1942 hat sie Franz Wagner geheiratet. 1945 kam er mit dem Zug in Biberach an, er war der Einzige, der noch laufen konnte, er hat nur einen Verband am Finger, da hatte ihn eine Kugel getroffen. Am Bahnhof haben alle geweint, alle Frauen. So was vergisst man nicht, sagt Johanna Wagner.
Sie hinterlässt winzige Fußspuren im Lauf der Welt
Sie bekommt einen Sohn, er ist taub, wie so viele Kinder aus dem Jahrgang 1945 in diesem Dorf. „Ich hätte ihm Taubstummensprache beibringen lassen sollen, dann hätte er es einfacher gehabt im Leben.“ Ihr Mann macht ein Malergeschäft auf, ein Eimer, ein Pinsel, nur er und seine Frau, sie arbeiten und arbeiten und arbeiten. Johanna Wagner putzt die Fenster, die ihr Mann streicht. Irgendwann streicht sie sie selbst und kann es fast besser als er. Der Franz habe kaum noch etwas vom Leben gehabt, sagt sie, nur Arbeit.
Johanna Wagner hat nie etwas Großes im Großen geleistet. Sie hat keine Literatur hinterlassen, keine Gemälde, keine Musik, keine Friedensbewegung. Sie hat keine Weltgeschichte geschrieben, viel von selbiger ist sowieso an diesem kleinen Sulmingen bei Biberach vorbeigegangen, weil es nicht wichtig war für dieses Dorf, in dem sie den Staub auf der Straße erst in den 1970ern gegen Asphalt getauscht haben. Ihr Erbe ist ein kleines, so wie das der allermeisten Menschen, winzige Fußspuren im Lauf der Welt.
„Sind Sie glücklich?“ „Ja, das bin ich. Und dankbar für jeden Tag, an dem ich aufstehen kann.“
Sie hat das Dorffest in Sulmingen erfunden, da war sie 70 und fand, all die kleinen Gartenfeste der Tennisspieler, der Fußballer, der Kleingärtner müssten ein großes Ganzes geben. Die Sulminger Sänger, die Dürnach-Spatzen, haben dort gesungen, die waren weit über Sulmingen hinaus bekannt, heute lebt nur noch einer davon.
Sie hat die gesamte Gegend mit Torten bebacken – mit Dutzenden Schleifchen aus Sahne, Tauben und Engel aus Marzipan, gebackene Bücher aus Teig und Zuckerguss. Für die wechselnden Bürgermeister des Orts, den Gesangverein, Chöre, Hochzeitspaare, Geburtstagskinder, sogar für Bischof Walter Kasper, davon gibt es ein Foto. Johanna Wagner mit Torte, neben ihr der Bischof, er freut sich. Er sitzt heute im Vatikan.
„Die Mondlandung? Wann war das?“
Sie backt ein Buch mit Schrift zum 70. Geburtstag eines Bekannten, als die Kubakrise die Welt fast in den atomaren Abgrund reißt.
Eine Klarinette mit Zuckerguss für die Baltringer Musikmädchen und ein Fußballfeld mit Schokoladenkäfern in Spielaufstellung, als Benno Ohnesorg erschossen wird.
Eine Hochzeitstorte mit fünf Stockwerken und Hunderten selbst gerollten Rosen aus Marzipan, als Neil Armstrong die ersten Schritte auf dem Mond macht.
„Haben Sie die Mondlandung im Fernsehen gesehen?“ „Nein. Wann war das?“
Dann stirbt ihr Franz, er war knapp über siebzig, ein gutes Alter. Gewebeveränderung, sagten sie ihr im Krankenhaus. Das nimmt sie ihnen heute noch übel, dass sie nicht Krebs sagten, da hätte sie wenigstens gewusst, was es ist. Sie war nicht dabei, als er ging. Hinterlassen hat er ihr ein halb fertiges Haus. Was sollte ich damit, so alleine, fragt sie. Es ist das einzige Mal, dass diese kleine, schöne Frau nicht mehr weiterspricht an diesem Nachmittag.
Sie war in Lourdes und Fatima, als die Frauen in Deutschland beschlossen, ihre Bäuche zurückzuerobern. Das sei nicht lange her, sagt sie.
Sie malte Ostereier an, als Tschernobyl explodierte, die brachte sie in einen Geschenkeladen in Ochsenhausen. „Die waren der Renner. Heute will sie keiner mehr, das ist aus der Mode.“
Das Wichtigste: die Toten ehren
Sie backt das Sulminger Wappen für den Sulminger Ortsvorsteher und eine kalte Platte aus Marzipan für den Metzger des Nachbarorts, als die Mauer fällt. Eine Jubiläumstorte für den Kriegerverein, in dem sie Ehrenmitglied ist, weil sie die Einzige ist, die das Denkmal mit Blumenteppichen schmückt, mit Rosen und Geranien und grünen Moosteppichen, es sieht aus wie ein Kunstwerk. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben in ihrem Leben. Die Toten zu ehren, die sie so lange hinter sich gelassen hat. Die Soldaten, in zweiter Generation mittlerweile, waren zu ihrem 80. da, zu ihrem 90., und als sie 100 wurde, haben sie sogar die Straße gesperrt und in die Luft geschossen. Den Krieg, sagt sie, vergisst man nicht mehr.
„Wie fühlt man sich mit 100 Jahren?“ – „Nicht mehr sicher. Vielleicht wird mir schwach, wenn ich rausgehe, deshalb bleibe ich drin.“ Johanna Wagner hat Feierabend. Es gibt nichts mehr, was sie tun muss.
Kürzlich starb Lena, die Tochter des Kommerzienrats, bei dem sie als junge Frau gearbeitet hat. Ein Bekannter ist letztens in seiner Wohnung umgefallen. Die Cousine hat ihr Leben vergessen und sitzt in einem Altenheim.
Keiner ist mehr da, der die alten Geschichten hören will, weil die Menschen, die darin vorkommen, keiner mehr kennt. Vom Gestern, in dem sich Johanna Wagner aufgehoben fühlt, will kaum einer mehr wissen, und das Heute ist so schnell und weit, dass sie nicht mehr mitkommt. Die Welt ist zu groß geworden für diese kleine Person.
„Ich passe nicht mehr in die Zeit“, sagt sie. – „Wovor haben Sie Angst?“ – „Ich weiß nicht.“
Das Dorffest gibt es noch, seit 27 Jahren, aber heute, sagt Johanna Wagner, sei es anders als früher. Da gebe es jetzt Kartoffelsalat aus der Packung. Die Jungen haben keine Zeit mehr und nicht mehr das Herz.
„Welche Gedanken bleiben, wenn man 100 Jahre gelebt hat?“ – „Es ging so schnell vorbei“, sagt Johanna Wagner.