: Die Liebe zu einem Jähzornigen
PARALLELBIOGRAFIE Peter Handke spielte im Gefühlsleben seines Verlegers Siegfried Unseld eine immens große Rolle, wie man im Briefwechsel der beiden lesen kann. Zum Preis dafür musste Unseld einiges aushalten
VON STEPHAN WACKWITZ
Dass die Autorenkorrespondenzen Siegfried Unselds, die der Suhrkamp Verlag seit einigen Jahren in schönen und wohldokumentierten Ausgaben zugänglich macht, offenbar ein interessiertes Publikum finden, gehört vielleicht zu den Nachwirkungen von Walter Kempowskis „Echolot“-Projekt. Kempowski hat das Dokumentarische, ein Genre der sechziger Jahre, das um die Jahrhundertwende fast vergessen war, mit großem künstlerischen Erfolg für die Gegenwartsliteratur wiedergewonnen. So lesen wir heute die Briefwechsel des großen Verlegers – ergänzt um die ausführlichen Berichte Unselds von persönlichen Begegnungen und zum Teil ausführliche Kommentare und Paratexte – vor dem Hintergrund eines dokumentarischen Romans wie etwa „Die Liebenden“ von Gerhard Henschel. Und sie erweisen sich in dieser Perspektive als spannend, dramatisch, zur Identifikation einladend, voll von zeitgeschichtlichem Kolorit und persönlichen Erinnerungen an die erzählte Zeit.
Der Austausch von Briefen ist seit Richardsons „Pamela“ und Goethes „Werther“ diejenige Gattung, in der intensive Gefühle – vor allem die verhinderte oder unmögliche Liebe – angeblich unmittelbar zu literarischem Ausdruck kommen. Und zu Unselds Genialität als Verleger scheint es gehört zu haben, dass er es verstand, die intensive narzisstische Libido, die den Treibstoff für das Veröffentlichen von Literatur bildet, an seine Person zu binden. So sind, psychoanalytisch gesprochen, seine Autoren-Korrespondenzen so etwas wie zielgehemmte Liebesromane. Und deshalb ist es literaturpsychologisch folgerichtig und auch irgendwie gattungstheoretisch berechtigt, dass sich die Geschäftskorrespondenz in der Fantasie der Leser unwillkürlich zum leidenschaftlichen Briefroman verklärt.
Gerade Peter Handke scheint im Gefühlsleben Unselds zeitlebens eine Sonderstellung eingenommen zu haben. Dass er „diesen Mann geliebt“ habe – das hat Unseld zwar über Thomas Bernhard geschrieben, aber wenn man sich zu Kontrollzwecken die Korrespondenz mit dem anderen großen Suhrkamp-Autor der österreichischen Gegenwartsliteratur ansieht, wird der Unterschied in der emotionalen Temperierung offenbar. Bernhard gegenüber ist Unseld väterlich distanziert, gelegentlich ironisch, immer souverän. Um Handke dagegen wirbt er, an ihm leidet er, von ihm lässt er sich provozieren, mit ihm sucht er die Versöhnung. Mit Handke lässt sich Unseld auf einen leidenschaftlichen Austausch ein. Wie Niklas Luhmann es in „Liebe als Passion“ beschrieben hat, kreist diese Form der Kommunikation um das Paradox der Gefühlsauthentizität. Unseld steht vor der Aufgabe, in leidenschaftlicher Kommunikation zu „beweisen“, dass es ihm wirklich um Handkes Literatur und nicht nur ums Geschäft geht. Da es Unseld aber natürlich, bei aller Bewunderung für Handkes Literatur, auch ums Geschäft gehen musste, hat der Verleger auf dieselbe Weise schlechte Karten im leidenschaftlichen Sprachspiel wie der Bewunderer im klassischen erotischen Briefroman, der kommunikativ beweisen muss, dass es ihm nur um die schöne Seele der Heldin geht. Während die ganze Veranstaltung in Wirklichkeit nur dadurch in Gang kommt und weitergeht, dass es ihm genau darum eben nicht nur geht.
Exponentiell kompliziert und eigentlich durchgehend in ihrem Bestand bedroht wurde das paradox-leidenschaftliche seelische Geschehen, das sich in diesem dokumentarischen Briefroman entfaltet, durch die explosive charakterliche Grundausstattung Handkes, dem Unseld eine zeitweilig offenbar geradezu masochistische Leidensfähigkeit und Begütigungsvirtuosität entgegenzuhalten wusste. „Jähzornige Leute beleidigen nicht mit Vorsatz“, schrieb Adolph Freiherr von Knigge, ein Zeitgenosse Goethes und Richardsons, dessen Erkenntnisse Unseld entweder intensiv studiert oder intuitiv verinnerlicht hatte. „Sie sind aber nicht Meister über die Heftigkeit ihres Temperaments. Ich brauche wohl nicht zu erinnern, daß Nachgiebigkeit – vorausgesetzt, daß diese Leute andrer guten Eigenschaften wegen einiger Schonung wert erscheinen, denn außerdem muß man sie gänzlich fliehen – daß weise Nachgiebigkeit und Sanftmut die einzigen Mittel sind, den Jähzornigen zur Vernunft zurückzuführen.“
Die von Handke bevorzugte Sozialtechnik des Sichverkrachens ist klassisch geschildert in jener berühmten Szene von Scorseses „Goodfellas“, in der Joe Pesci ein Kompliment absichtlich in den falschen Hals kriegt, damit er einen Grund hat, unkontrolliert auszurasten: „What do you mean, I’m funny. I mean, funny how? Funny, like I’m a clown? I’m here to amuse you?“ Und so weiter. „Ich bin ein bißchen erstaunt darüber, daß Du schon zweimal in Briefen an mich das Wort ‚Sitzen‘ verwendet hast. Einmal hast Du es mir nach Berlin geschrieben (ich ‚säße‘ in Berlin und wüßte wohl nichts anzufangen), und nun, in Deinem vorletzten Brief, schreibst Du, Du stelltest Dir vor, ich ‚säße‘ in Paris und langweilte mich. Ich muß Dir sagen, daß ich das sehr beleidigend finde. Ich kann mir natürlich ein Stehpult anschaffen und an einem Stehpult schreiben wie Gerhart Hauptmann, aber im Moment kann ich einfach nicht anders als beim Schreiben zu sitzen. Aber Du hast das Wort ja metaphorisch gemeint, was noch viel schlimmer ist. Es zeigt eine Vorstellung des Verlegers vom Leben eines (‚seines‘) Autors, die ich beängstigend finde. Sicher ist meine Aktivität nicht so verfilmbar wie die eines wirklich aktiven, im Leben stehenden Tatmenschen… Aber Schluß jetzt damit.“
Von der kommunikationsregelwidrig plötzlich ernstnehmenden Rezeption völlig harmloser Formulierungen bis zum einseitigen Abbruch der einseitig vom Zaun gebrochenen Zorn- und Beleidigungskommunikation – man würde diesen Menschen sehr schnell „gänzlich fliehen“, wenn man ihn nicht, wie sein genialer Verleger es tat, konnte und musste, „andrer guter Eigenschaften einiger Schonung wert“ erachtete. Es scheint, dass Handkes Beziehung zu Unseld eine der längsten und stabilsten menschlichen Beziehungen im Lebenslauf des Einsiedlers von Chaville gewesen ist.
Nicht nur psychologisch und kreativitätspsychologisch jedoch ist dieser Briefroman spannend. Man kann ihn vielfältig lesen: als Zeitroman der sechziger und siebziger Jahre, als Porträt eines Ausgewanderten, als Reiseliteratur, als Beispiel lebenspraktischer Gewinnung von Welt und Überwindung von Provinzialität, als Bildungsroman. Wie Keith Richards’ „Life“ und Pete Townsends „Who I am“ ist dieser Briefwechsel eine der Autobiografien großer kreativer Zentralfiguren der sechziger und siebziger Jahre. Außerdem ist er ein literatursoziologisches Lehrstück. Handke hat viel bewusster als andere Schriftsteller seiner Zeit (der einzige Parallelfall, der einem sofort einfällt, ist Brecht) früh und planvoll den Status einer Art Klassiker angestrebt. Genaue Kenntnis und Analyse des literarischen Feldes, literaturstrategische Interventionen (so planten Unseld und Handke lang eine Literaturzeitschrift), Pflege sämtlicher Gattungen vom Essay bis zum Film bei Konzentration auf Drama und Roman, kontinuierliche Marktpräsenz, Entdeckung und Förderung von Schülern und noch nicht prominenten literaturstrategischen Verbündeten (wie Hermann Lenz), Übersetzungstätigkeit, intuitiv richtiger Einsatz von Skandalen, strategischer Umgang mit Interviews, richtige Dosierung des gesellschaftlichen Glamourfaktors – Handke hat nicht nur das vermutlich bedeutendste und jedenfalls interessanteste literarische Werk in deutscher Sprache der Nachkriegszeit geschaffen, sondern auch außerliterarisch fast alles richtig gemacht.
Mit all dem aber – und das ist das Wichtigste an diesem schönen und lesenswerten Buch – gibt Handkes Korrespondenz mit seinem Verleger uns Handke-Lesern und Suhrkamp-Kunden eine Parallelbiografie, in der wir uns – ganz wie sich Plutarch das für die Leser seiner Parallelbiografien vorgestellt hat – selbst erkennen. Wir lesen in diesen Briefen unsere Zeit und erkennen uns darin, wie diese beiden großen Männer die Jahrzehnte unseres Erwachsenenlebens für uns festgehalten haben, schreibend der eine, Bücher machend und – ja! – Bücher verkaufend der andere. Einer hätte es nicht ohne den anderen geschafft. Und wir können jetzt nachlesen und ein bisschen besser verstehen, wie es während der Zeit, die wir – lesend und bücherkaufend, persönlich unbekannterweise, aber trotzdem immer mit ihnen – zugebracht haben, in ihnen ausgesehen hat.
■ Peter Handke, Siegfried Unseld: „Der Briefwechsel“. Herausgegeben von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 798 Seiten, 39,95 Euro