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Archiv-Artikel

„Für meine Familie bin ich Helga“

Die Berliner Autorin Hatice Akyün beschreibt in ihrem Buch „Einmal Hans mit scharfer Soße“ ihr Leben als Deutsche und Türkin jenseits von Zwangsheirat und Ehrenmord: „Mein Alltag ist einfach anders“

INTERVIEW KATRIN BIRNER UND CHRISTOPH MAYERL

Hatice Akyün ist Türkin mit einem Faible für Highheels, perfekt geschwungene Augenbrauen und romantische Männer. Sie ist Deutsche mit Familiensinn, südländischem Temperament und dem Glauben an das Schicksal aus dem Kaffeesatz. In ihrem Buch „Einmal Hans mit scharfer Soße“ plaudert sie offen aus ihrem Leben als alleinstehende Frau, Journalistin und Tochter einer anatolischen Familie. Sie sitzt auf zwei Stühlen. Dass das problematisch sein muss, findet sie nicht. Sie scheint es eher zu genießen .

taz: Frau Akyün, hatten Sie Angst vor der Reaktion Ihres Vaters auf Ihr neues Buch?

Hatice Akyün: Ich habe dieses Buch geschrieben und meine Eltern wussten davon nichts. Meine Mutter wird das Buch niemals lesen können, weil meine Mutter Analphabetin ist. Mein Vater kann nur ganz wenig türkisch lesen. Ich hatte keine Bedenken, dass er mich verstoßen würde. Aber ich musste ihn darauf vorbereiten. Meine Schwester hat ihm erklärt, dass ich meine beiden Leben beschreiben musste, auch die Teile, von denen er nichts weiß. Er hat erst gesagt: Ja, war das denn nötig, dass das aufgeschrieben wurde? Ich habe dann gesagt: ja, das war nötig, und dann hat er das wohl auch akzeptiert.

Wie finden Ihre Leser das Buch?

Zu meinen Lesungen kommen viele türkische Frauen, die sagen, danke, dass du das mal so aufgeschrieben hast und keine Leidensliteratur verfasst hast. Was mich bei den Deutschen am meisten überrascht hat, ist, dass einfache Dinge, die für mich das Selbstverständlichste überhaupt sind, für viele Leute so neu sind. Zum Beispiel, dass Zwangsheirat nicht türkisch ist.

Aber wir lesen und hören viel über Zwangsverheiratungen türkischer Mädchen.

Ich leugne das, was in den Medien berichtet wird, nicht. Natürlich gibt es Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde und Frauen, die nicht von zu Hause weg dürfen. Aber es ist nur ein kleiner Teil. Dagegen gibt es tausende, tausende türkische Mädchen in diesem Land, die ein ganz normales Leben führen. Ich habe ein Buch geschrieben, das die Normalität einer jungen deutsch-türkischen Frau repräsentiert. Es ist zumindest repräsentativ für viele türkische Frauen, die ich kenne. Der Mord an Hatün Aynur Sürücü in Berlin ist eine Tragödie. Für uns Türken genauso. Im Koran steht nichts von Ehrenmord. Das ist nicht islamisch und es ist auch nicht türkisch. Ist eine Frau, eine deutsche Mutter, die ihr Kind verhungern lässt, typisch deutsch? Nein, sie ist unmenschlich. Die Leute differenzieren hier nicht.

Sind die Medien für diese verzerrte Sichtweise verantwortlich?

Ich glaube, für die Medien ist es sehr reizvoll, über solche Geschichten zu schreiben. Ich habe mich so aufgeregt über einen Bericht, in dem 13-Jährige aus einer Neuköllner Schule zitiert wurden, die sagten, es war richtig, dass die Brüder Hatün umgebracht haben. Das darf man aber doch nicht so in die Überschrift schreiben. Man muss darüber berichten, aber durch solche Geschichten darf nicht das Bild entstehen, dies sei Teil türkischer Kultur. Ich könnte heute auch in eine Hauptschule in Bayern oder Hamburg gehen, und ich finde bestimmt fünf Jungs, die sagen, Hitler war super.

Man darf also einzelne Fälle nicht verallgemeinern und auf die Kultur zurückführen. Andere, zum Beispiel Necla Kelek, sehen die Kultur durchaus als Teil des Problems.

Ich schätze Necla Kelec sehr, und sie hat ein sehr wichtiges Buch geschrieben. Aber sie ist als Soziologin an dieses Thema herangegangen. Ich dagegen hatte nie vor, ein soziologisches Buch zu schreiben. Meine Absicht war, zu zeigen, wie eine türkische Familie in Deutschland auch leben kann. Ich hätte natürlich drei, vier problematische Aspekte aus meinem Leben aufgreifen können. Ausländerfeindlichkeit, Zwangsehen oder das Thema „Meine traditionelle türkische Familie“. Ich hätte daraus ein wunderbar problembelastetes Buch machen können. Das wären dann nur fünf Prozent meines Lebens gewesen. Mein Alltag ist einfach anders.

Wie traditionell ist Ihre Familie denn?

In meiner Familie gibt es alle Lebensmodelle, die eine türkische Familie in Deutschland leben kann. Mein Vater geht in die Moschee und betet; mein älterer Bruder ist der Prototyp eines erfolgreichen, deutschen, studierten Mannes, der fleißig ist, pünktlich ist, ehrgeizig. Der jüngere ist ein Mann, der versucht, möglichst nicht zu arbeiten. Das gibt es ja auch bei den Deutschen. Meine älteste Schwester trägt Kopftuch – aus freien Stücken, weil sie sehr religiös ist. Wenn ihre Tochter sich verlieben würde, wäre das aber kein Problem. Meine jüngere Schwester hat in der Türkei geheiratet, lebt dort und trägt kein Kopftuch. Sie geht abends aus, aber sie sagt auch: Ich habe Familie, möchte mich um die Kinder kümmern. Sie hat einfach ein sehr wertkonservatives Verständnis ihres Lebens. Dann komme ich: Für meine Schwestern bin ich „Helga“, also eine Deutsche, deren Leben sie ein bisschen bedauernswert finden. Ich habe keine Familie, keinen Mann, keine Kinder und meine Schwestern fragen: Fühlst du dich nicht alleine?

Ist eine Familie, in der alle diese Lebensmodelle toleriert werden, ein Sonderfall?

Nein. Meine Familie ist repräsentativ für die Gastarbeiterfamilie. Es herrscht keine Einigkeit darüber, wie eine muslimische Frau auszusehen hat, wie sie zu leben hat. Wie sollte sich denn diese ganze islamische Welt einig sein? Man darf eine türkische Familie nicht nach dem Aussehen beurteilen. Nehmen wir die türkische Mama, die in Kreuzberg über den Markt läuft. Natürlich hat man dann sofort ein bestimmtes Bild im Kopf, aber möglicherweise hat diese Frau zu Hause die Hosen an, was übrigens in sehr vielen Familien hier der Fall ist. Wenn die Leute mich sehen, denken sie dagegen oft, meine Eltern hätten mich besonders unterstützt.

Haben Sie nicht?

Nein, ich habe erst in der Schule Deutsch gelernt. Deutsch wurde bei uns zu Hause nicht gesprochen, ist auch heute noch quasi verboten. Im Nachhinein ist das ein großer Vorteil für mich, weil ich beide Sprachen perfekt kann. In der dritten Generation gibt es da jetzt ein Problem: Die Leute meinen Alters sprechen ganz gut deutsch und zu Hause wird dann oft so ein Mischmasch gesprochen. Die Kinder lernen dann weder richtig Deutsch noch richtig Türkisch.

Wie wichtig ist es, dass die Kinder Deutsch lernen?

Die Sprache ist für mich der Schlüssel. Man muss die Leute dazu verpflichten, sie zu lernen. Die Türken, und das wissen viele Deutsche gar nicht, haben großen Respekt vor Behörden. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schnell der türkische Vater sein Kind in die Schule schickt, wenn ich mit einem Bußgeldbescheid komme. Das geht ganz schnell. Bevor türkische Kinder eingeschult werden, sollten sie ein Jahr Deutsch lernen. Bevor sie in die erste Klasse kommen. Wenn man dieses Pflichtjahr einführen könnte, das wäre klasse. Was ich für sehr sinnvoll erachte, ist, sich auf die neue Generation zu konzentrieren. Kümmert euch nicht um meine Eltern, die brauchen kein Deutsch und lernen es nicht mehr. Kümmert euch um die, die jetzt in die Schule kommen.

Warum haben Ihre Eltern kein Deutsch gelernt?

Der Fehler meiner Eltern bzw. der Gastarbeitergeneration war, dass die immer gedacht haben, sie fahren nächstes Jahr wieder zurück. Und die Deutschen haben gesagt: Arbeitskräfte sind willkommen, sie sollen ihr Leben und ihre Traditionen weiterleben. Das Wichtigste aber wäre gewesen, dass die Türken die Sprache lernen. Und das ist versäumt worden. Weil die Deutschen Angst hatten, dies zur Pflicht zu machen. Pflicht und Zwang klang nicht gut, man hatte Angst vor der Rassismus-Keule. In anderen Ländern läuft das viel einfacher. Die sagen einfach: Du lernst jetzt die Sprache. Das war der Fehler der Deutschen. Und irgendwann wachten beide auf und dachten: Scheiße, unsere Vorstellungen haben ja gar nicht funktioniert. Jetzt muss man weitergehen und nicht immer fragen: Was haben wir in der Vergangenheit falsch gemacht.

Woran scheitern wir also gerade? Was können wir, die Deutschen, aber auch die Türken heute besser machen, damit Integration funktioniert?

Wenn ich das wüsste, wenn ich die Lösung hätte, das wäre so schön. Es ist so schwer, pauschal etwas zu sagen. Die Türken sind so unterschiedlich, in jeder Familie müsste man anders ansetzen. Außerdem kann man nicht einfach sagen: Ihr müsst euch integrieren. Manche Leute können das Wort nicht einmal aussprechen. Das muss anschaulicher werden. Integration heißt für mich, dass die Kinder in die Schule gehen. Und es geht um einen Prozess, das Bewusstsein langsam zu ändern. Mein Vater war auch der Überzeugung, dass seine Töchter nicht in die Schule müssen, keine Ausbildung brauchen. Die heiraten ja eh irgendwann, und die Männer werden schon für sie sorgen. Es hat 18 Jahre gedauert, bis er sich eingestehen konnte, dass es wichtig ist für uns, zu lernen.

Glauben Sie, dass sich dieser Prozess des Umdenkens und damit die Integration fortsetzt?

Man weiß es nicht. Ich bin erst die zweite Generation. Wir können schon hier zusammen sitzen, uns darüber unterhalten, ein Interview führen in der selben Sprache. Wenn man nur eine Generation zurückgeht, wäre das nicht möglich gewesen. Ich empfinde das schon als ziemlichen Fortschritt und sage das den Deutschen auch immer: Ihr seid so ungeduldig.

Es gibt keine kulturellen Grenzen, die Integration unmöglich machen?

Natürlich nicht, lasst uns doch noch ein bisschen Zeit.

Sie bezeichnen sich als Paradebeispiel einer gelungenen Integration. Taugen Sie als Modell?

Ich glaube, viele türkische Frauen finden mein Leben schrecklich, weil ich so deutsch bin. Sie glauben, ich habe alles Türkische abgelegt. Was zwar nicht stimmt, aber so gesehen wird. Ich bin also kein Musterbeispiel für die Türken hier. Selbst meine Geschwister, die sehr integriert sind, möchten nicht so leben wie ich.

Ist Ihr Leben in zwei Welten bedauernswert?

Normalerweise reflektiert man die beiden Seiten ja nicht, im Alltag springt man hin und her, das ist sehr einfach. An mir ist vieles türkisch und vieles deutsch – und es gibt so viel Schönes auf beiden Seiten. Am Türkischen mag ich den Familienzusammenhalt. Wenn ich mal krank bin, keinen Mann mehr kriege oder was weiß ich, habe ich meine Familie. Bei irgendjemandem kann ich wohnen, und das macht mich sehr entspannt. Auf der anderen Seite vermisse ich inmitten meiner Familie meine Ruhe. Nach einer gewissen Zeit muss ich gehen, weil mir das zu viel wird. Und ich liebe dieses deutsche Geordnete, wie übrigens viele Türken. In meinem Fall kommt auch noch die Sprache dazu: die deutsche Sprache, die ich besser beherrsche als die türkische.

Wenden wir den Blick von Deutschland weg nach Europa. Ist die Türkei reif für den EU-Beitritt?

Zunächst einmal finde ich es falsch, wie einige Politiker der CDU damit umgegangen sind, Das war sehr schädlich für Deutschland und die ganze Integration. Weil Unmut gesät wurde. Für die Türkei gilt: Jedes Beitrittsland musste bisher Kriterien erfüllen, ganz einfach. Und die Türkei muss das auch. Und wenn die Türkei es nicht schafft, diese Kriterien zu erfüllen, dann soll sie auch nicht in die EU. Die Türken sind in der Bringschuld. Sie dürfen sich dabei nicht mit Polen messen oder Portugal oder den anderen. Man kann nur sagen: Sorgt dafür, dass ihr europafähig werdet.