EIN WENIG WELTUNTERGANG IN DER FLITTCHENBAR, EIN PAAR ECKKNEIPEN UND ZUM SCHLUSS DIE EXPLOSION MIT JON SPENCER IM FESTSAAL KREUZBERG
: Leidenschaftlich geliebt

JENNI ZYLKA

Weil der Logiergast, frisch getrennt, es ordentlich wissen wollte, reiste er bereits am Präwochenendtag zur Sause in Berlin an, und dann ging es Knall auf Fall und, wie am Sonntagabend klar wurde, heimlich einer übergeordneten Dramaturgie folgend, die am Ende in Orgasmen auf der ganzen Linie gipfelte.

Aber erst einmal die Flittchenbar am Donnerstag. Motto „Weltuntergang“. Wie üblich mit der Herausforderung für jeden geladenen Showact, ein eigenes und ein gecovertes Stück zum Thema zu bringen. Glücklicherweise hatte nicht nur die lahme ehemalige Studentenband R.E.M. einst über „The End of the World“ gesungen, sondern auch zum Beispiel Skeeter Davis, was in der Flittchenbar Half Girl noch wusste und charmant rekapitulierte. Zudem David Bowie: „Five Years“ nämlich, und beim Covern zählte allein die Begeisterung – besser machen kann man den Song eh nicht, nur andächtig den Hut vor Bowies Verve ziehen. Danach Disco. Der Logiergast tänzelte irgendwann am nächsten Morgen singend und nach Korn duftend zu Hause ein. Er hatte Ecken mit den entsprechenden Kneipen gefunden, die mich neidisch machten: Wer wohnt denn eigentlich schon seit Jahrzehnten hier, der Gast oder icke?!

Kiloweise Piroggen

Am Freitagabend versuchten wir, in den Würgeengel zu gehen, weil das ja noch nie verkehrt war, aber neuerdings steppt da der blöde Bär dermaßen, dass man reservieren muss, was spontanem Cocktailjieper das Vergnügen nimmt. Dazu schmeckte der Basilikum-Gimlet sehr nach Spaghetti Pesto. Das nächste Mal kommen wir wieder unter der Woche und konsumieren klare Zweikomponentendrinks.

Aber der Samstag versprach Rasanz: Der Besuch hatte den ganzen Tag auf dem Sofa vor sich hin gedampft. Am frühen Abend stopfte er vorausschauend auf einer polnischen Party kiloweise selbst gemachte Piroggen in sich hinein, sodass die weitere Nacht konditionsmäßig überhaupt kein Problem mehr war. Das nennt man Nachhaltigkeit, murmelte ich bewundernd, als am nächsten Tag das Logierzimmer zur Bumsbude umfunktioniert worden war, weil der Besuch Glück beim Aufreißen hatte. Ich überlegte kurz, ob ich wie eine aufdringliche Pensionswirtin kurz mal hineinspicken und „Und, war alles in Ordnung?“ rufen sollte. Ließ es aber dann aus vertraulichen Gründen.

Der Sonntag wartete schließlich mit den angekündigten Höhepunkten auf: Im Haus des Rundfunks spielte das Rundfunk-Sinfonieorchester am Nachmittag ein so wunderbares Kinderkonzert mit John-Williams-Filmmusik, dass einem adventswarm ums Herz wurde: das Prinzessin-Leia-Thema aus „Star Wars“, „Jurassic Park“, Suiten aus zwei Harry-Potter-Filmen – Harrison Ford fehlte überhaupt kein bisschen, Daniel Radcliffe erst recht nicht. Das artig-jugendliche Publikum hörte brav anderthalb Stunden zappelfrei zu und wusste vielleicht nicht genau, warum Moderator Herbert Feuerstein Prinzessin Leia immer wie „Prinzessin Leier“ aussprach, aber Erwachsene sind ja zuweilen komisch.

Als dann der Wochenendbesuch im preiswerten Bus zurück in die Heimatstadt saß, die zweite Kranzkerze fast abgefackelt war und der Sekt wieder schmeckte, spielte endlich Jon Spencer mit der Blues Explosion im ausverkauften Festsaal Kreuzberg. Und er wird dies hier ja nie lesen. Dennoch: Falls ihn jemand trifft, bitte Bescheid sagen, dass er immer noch leidenschaftlich geliebt wird. Umso mehr nach den Jahren, in denen seine Zwischendurchband Heavy Trash nicht wirklich überzeugend Rockabilly rippte, und in dem Bewusstsein, dass wir alle einen langen Weg gekommen und eigentlich steinalt sind. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber wenn sich irgendjemand immer noch „Explosion“ nennen darf, dann ist das der New Yorker mit den hübschen Augenschatten. Ich zittere immer noch, im bestmöglichen Sinne.