: Totaler Realitätsverlust
AUS FRANKFURT HEIDE PLATEN
Vor der 21. Strafkammer des Frankfurter Landgerichts wird seit drei Wochen ein Mord ohne Leiche verhandelt. Tagelang hatten Polizei, Taucher und Hundestaffeln im Herbst 2004 bei Montabaur im Westerwald vergeblich nach dem 25-jährigen Millionärssohn Andreas Sascha Grimm gesucht, der seit dem 15. Oktober verschwunden ist. Des heimtückischen, geplanten Mordes aus niederen Beweggründen angeklagt ist der 23-jährige Jens A. Er habe den Sohn eines Textilfabrikanten unter dem Vorwand eines Drogen-Deals in seine Wohnung gelockt, sagt Staatsanwältin Silke Schönfleisch, und habe ihn aus Habgier und Eifersucht erschossen, die Leiche dann zerstückelt und fortgeschafft.
Zu Beginn des Verfahrens mahnte der Vorsitzende Richter Klaus Drescher den Angeklagten eindringlich, endlich zu gestehen, wo er die Leiche versteckt habe. Die Angehörigen brauchten einen Ort der Trauer. Jens A. ist ein schmaler Mann mit dunklem Haar und mit auffällig blassem Gesicht. Der kleine, rote Mund mit den aufgeworfenen Lippen lässt ihn immer aussehen, als ob er schmollte. Er schwieg. Umso beredter war dann das über 50 Seiten umfassende Teilgeständnis, das er am zweiten Verhandlungstag von seinem Verteidiger verlesen ließ und in dem er die Tötung von Grimm erstmals zugab. Sie sei ein Unfall gewesen.
Der Inhalt dieses Teilgeständnisses ist eine Mischung aus Größenwahn, Realitätsverlust und Geldgier. Er sei, schrieb A., „mit Stars und Sternchen“ groß geworden, weil seine Mutter eine berühmte Frau sei, eine „weltweit anerkannten Bühnen- und Filmkosmetologin“. Er selbst stilisiert sich zum Wirtschaftswunderkind, das schon mit 14 Jahren eine Computerfirma gründete und mit Aktien handelte. Er macht sich zum Geschäftsführer seines „Forschungs- und Entwicklungsunternehmens für Geschäftsideen von globalem Interesse“. Gemeinsam mit der Mutter häufte er Schulden an und scheiterte mit der Gründung einer aufwendig ausgestatteten „University of Artists“, einer internationalen Kosmetikschule, die das Schminken zur Wissenschaft adeln sollte. Dass er den Hauptschulabschluss nicht schaffte, hinderte ihn nicht daran, sich in den USA nach einem Studienplatz in „Harvard oder Stanford umzusehen“. Dass er durch einen Konkurs seiner „Academy Of Trends“ 2003 Schulden von 150.000 Euro anhäuft und auch die Geschäfte der Mutter nicht gut laufen – die er in seinem Text in jedem zweiten Satz als sein Vorbild erwähnt –, hindert ihn nicht daran, sich selbst als „Berufsvisionär“ zu sehen.
Jens A. schrieb auch auf, er sei „ein verwöhntes Kind“ gewesen: „Ich habe alles bekommen, was die anderen nicht hatten.“ Zu seiner kreativen Mutter habe er ein fast symbiotisches Verhältnis gehabt. Sie habe „alles geregelt“. Von ihr habe er früh gelernt, dass es im Leben immer darum gehe, „ein Image zu verkaufen“: „Hollywood war der Stern, um den sich alles drehte.“ Er habe seine Rollen gespielt, immer mit Lügen und Klischees gelebt: „Manchmal konnte ich nicht mehr feststellen, in welcher Realität ich gerade war.“ Eigentlich haben er und seine Mutter „immer am Limit“ und „über unsere Verhältnisse“ gelebt. Manchmal half der Vater bei Engpässen aus. Die geschiedenen Eltern, ein Reisebürobesitzer aus Jordanien und die Visagistin, mit er er die Wohnung, die zum Tatort wurde, teilte, wurden als Erste angehört. Beide verweigerten die Aussage. Seither sitzt die Mutter, eine kleine blonde Frau mit dicker Brille, an jedem Verhandlungstag im Saal und macht sich Notizen. In den Pausen versorgt sie ihren Sohn mit Essen und Zigaretten.
Jens A. hatte die Schuld am Tod von Grimm bis zum Prozessbeginn bestritten. Schon vier Tage nach der Tat hatten er und seine 39-jährige Freundin Anja D. sich bei Vernehmungen in Widersprüche verwickelt. Die Polizei schöpfte Verdacht, durchsuchte seine Wohnung, die seiner Freundin und die eines Bekannten. Mit den Ergebnissen konfrontiert, beschuldigte A. zwei ihm unbekannte, marokkanische Dealer und gab den falschen Tipp, der die Suche im Westerwald auslöste. Einer der Männer habe Grimm bei einem Streit um die Bezahlung von Kokain erschossen. Er selbst sei mit vorgehaltener Pistole gezwungen worden, die Spuren zu beseitigen. Das misslang dem verhinderten Harvard-Absolventen und gescheiterten Jungunternehmer gründlich.
Die Beamten fanden zwar keinen Hinweis auf Unbekannte, dafür aber reichlich Spuren, die auf A. deuteten. Die vermutliche Tatwaffe lag in der Wohnung eines Bekannten im Kosmetikkoffer von Anja D. versteckt, die Luxusuhr des Vermissten fand sich ebenfalls dort. In einer Sporttasche steckten ein Handbeil, ein Küchenmesser, ein Bajonett und blutige Kleider. Grimms Blut haftete auch an in der Nachbarschaft im Sperrmüll entsorgten Teppichbodenstücken. Bei dem Angeklagten wurden außerdem die Autoschlüssel des Opfers und 3.000 Euro gefunden. Kurz nach Grimms Tod habe er außerdem versucht, dessen BMW zu verkaufen, und eine Handkreissäge, eine Plastikplane und einen Reisekoffer gekauft. Zwei Polizeibeamte sagten zu Prozessbeginn, sie zweifelten nicht an der Täterschaft von Jens A. Deswegen haben sie diesen bei ihren Vernehmungen immer wieder gedrängt, zu sagen, wo die Leiche sei. Trotz erdrückender Beweise habe er – sonst beredt – bei diesem Punkt beharrlich geschwiegen oder sich auffällig abwehrend verhalten. Ihnen sei der Verdacht gekommen, dass da nach dem Mord noch „irgendetwas“ mit dem Toten passiert sein könnte.
In seiner Erklärung ließ Jens A. seine Anwälte nun verlesen, dass alles ein Unfall gewesen sei. Er habe Grimm, Sohn eines Textilfabrikanten, in seiner Wohnung im Frankfurter Nordend bei einem Streit „versehentlich“ erschossen. Grimm sei gekommen, um sich 30 Gramm Kokain zum Preis von 3.000 Euro abzuholen. Überraschend habe ihn Grimm, der eigentlich sein Freund gewesen sei, dann verbal angriffen, ihm gesagt, dass er nicht gut genug sei für seine Freundin – mit der er, Grimm, im Übrigen auch er ein Verhältnis habe. Er selbst sei betrunken gewesen, habe gekokst und im Zorn nach einer Pistole gegriffen, die in der Handtasche seiner abwesenden Freundin gesteckt habe. Er sei verwirrt gewesen, habe sich überrumpelt gefühlt, „Arschloch“ gebrüllt. Er habe nur drohen wollen, erreichen, dass Grimm „die Klappe“ hält. Da habe sich unerwartet ein Schuss gelöst, es habe geknallt. „Meine Ohren haben gepiept.“ Dann sei Grimm, in den Kopf getroffen, umgekippt und sofort tot gewesen.
Er habe nicht gewusst, was er tun solle, seine Freundin, Anja D. angerufen und sich mit ihr getroffen. Sie habe gesagt, „dass der Andreas weg muss“. Man sei gemeinsam zur Tat geschritten, ein Bekannter habe geholfen. Man habe den Toten in die Badewanne geschafft, dort vergeblich versucht, ihn zu zerstückeln, dann in Betttücher gehüllt und fortgebracht. Über Einzelheiten wolle er aber „lieber nicht“ reden.
Die Freundin Anja D. ist von Jens A. ebenso überhöht worden wie seine Mutter. Die 16 Jahre ältere Frau, die sich selbst Kauffrau nennt, sei „die Super-Diva“ gewesen, auf die er sein Leben lang gewartet hatte, eine Frau mit „glorreicher Vergangenheit“. Der Sommer mit ihr, verstieg sich Jens A., sei ihm „endlos und ohne Sorge“ erschienen. Gemeinsam mit ihr habe er einen großen Freundeskreis gehabt, zu dem auch Grimm seit einigen Monaten gehört habe. Man habe gefeiert, getrunken, gekokst, in Bars und Nobelhotels viel Geld ausgegeben. Immer sei er auf Investorensuche gewesen. Koks und schöne Frauen seien dabei von den potenziellen Geldgebern „erwartet worden“.
Anja D. bestritt mit Leidensmiene, irgend etwas gewusst zu haben. Sie saß selbst einige Monate in Untersuchungshaft, weil sie ebenfalls tatverdächtig war. Zwischen ihren Geschäftsunterlagen waren Computerausdrucke über Entführungsfälle der letzten 40 Jahre gefunden worden. Sie gab zu, dass sie die Pistole, die als Tatwaffe gilt, „zu ihrem Schutz“ öfter abends in der Handtasche herumtrug. Das ließ Vermutungen aufkommen, dass es sich bei dem Mord um eine gescheiterte Entführung gehandelt haben könnte. Jens A. verneinte das. Er habe ihr die Tat allerdings gestanden und sie habe ihm geholfen.
Die „Super-Frau“ Anja D. – im Zeugenstand eher unscheinbar – könne sich an kaum etwas erinnern. Der Tatvorwurf und die Untersuchungshaft seien ein Schock für sie gewesen, sie habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie sagt, sie habe nie viel über ihren jungen Freund gewusst. Die Pistole habe in seiner Wohnung gelegen, sie habe sie manchmal mitgenommen, aber nicht einmal genau gewusst, wie sie zu bedienen sei. Und ihr Verhältnis zu Grimm sei ein „Ausrutscher“ gewesen.
Der Halbbruder des Opfers bezweifelte am vergangenen Freitag, dass sein Bruder A. provoziert haben könnte. Andreas Grimm sei zwar lebenslustig und zuverlässig, aber auch konfliktscheu gewesen, besonders wenn es um Beziehungsdiskussionen mit oder über Frauen gegangen sei. Niemals habe er Streit gesucht, sondern „sich gedrückt“ und sei im Konfliktfall eher „wie ein Hase“ fortgerannt.
Ein ehemaliger Zellengenosse, der behauptet hatte, A. habe ihm den Mord gestanden, verweigert die Aussage. Er stehe vor der Ausweisung in den Libanon und dort sei die Familie des Vaters von A. „sehr mächtig“. Der Indizienprozess werde mindestens bis Januar dauern. Es sind über 100 Zeugen und 13 Sachverständige geladen.