Ein kleines Wunder

Gegen alle Wahrscheinlichkeit hat Merkel das Selbstverständliche geschafft: Sie wird Kanzlerin

VON HEIDE OESTREICH

Sie hat erst ganz am Schluss gelächelt, und das auch nur ein bisschen. Mit wenig bewegter Miene verlas Angela Merkel den entscheidenden Satz, den die SPD bis zur letzten Minute hatte verhindern wollen: „Die Union besetzt das Kanzleramt“. Soll heißen: Merkel besetzt das Kanzleramt. Dann einige staatstragende Wendungen und am Ende ein kurzes, mäßig vergnügtes Lächeln.

Mehr Lächeln ging nicht, so viel kann man Angela Merkel von ihrem ansonsten wohlinszenierten Ehrlichkeitskurs durchaus abnehmen. So wie sie hat noch kein Wahlsieger um die Selbstverständlichkeit gekämpft, ins Kanzleramt einzuziehen. Drei Wochen lang prasselte ein Trommelfeuer an Kritik und Diffamierungen auf sie ein. Hatte man bislang immer gedacht, die Frauenfeinde seien eher in der Union als in der SPD zu finden, so wurde man in diesen drei Wochen eines Besseren belehrt: Es war die SPD, die sich in Schröders machistischen Machtrausch hineinsteigerte und mit einer Verächtlichkeit über Merkel herzog, die bis dahin beispiellos war. „Die kann ja noch nicht mal einen Wahlkampf führen“, schoss noch am Abend vor der letzten Sondierung Johannes Kahrs vom Seeheimer Kreis. Und Gerhard Schröder selbst brach das vereinbarte und von allen anderen strikt eingehaltene Schweigen der Sondierungsrunde, um Journalisten exklusiv wissen zu lassen, Merkel wirke so zurückhaltend und unklar, die Frau sei derzeit „kaum entscheidungsfähig“.

Nein, auf die Frage, ob sie eine glückliche Frau sei, mochte Merkel so direkt nicht antworten, und das lag nicht nur an der Dämlichkeit der Frage, bei der die Journalisten zum Glück selber lachen mussten. Und man hätte sie wohl für unzurechnungsfähig halten müssen, hätte sie ein „Ja!“ in die Kameras gejuchzt. Denn so viel kann man nach fünf Jahren Angela Merkel in einem politischen Spitzenamt sagen: Es wird ihr auch weiterhin nichts anderes übrig bleiben, als zwischen absolut widersprüchlichen Erwartungen an sie als Frau an der Spitze hindurch zu lavieren. Heute werden ihr alle mal wieder Gefühlskälte vorwerfen. Würde sie jubeln, gälte sie als naiv und unbedarft.

Die Sozialwissenschaft hat für das Phänomen, das wir gerade mit Angela Merkel erleben, den Begriff „Tokenisierung“ geprägt. Ein „Token“ ist jemand, der eine Minderheit repräsentieren muss – ob er will oder nicht. Auf ihn werden sämtliche Vorurteile und Erwartungen projiziert, die dieser Minderheit angedichtet werden. Die Minderheit Frauen in der Bundeswehr kann ebenso ein Lied davon singen wie die Minderheit Frauen in der Politik. Wenn also Angela Merkel in den Sondierungsgesprächen mal schweigt, dann knüpft dieses Bild an an das, was alle schon mal erlebt haben: Dass Frauen in politischen Runden schweigen, das Reden den Männern überlassen und „kaum entscheidungsfähig“ sind. Schröder braucht nur noch dieses Bild anzutippen und schon läuft bei den ZeitungsleserInnen der Film ab: „Die Frauen können’s doch eigentlich nicht.“

Macht Merkel einen Fehler, führt sie einen verunglückten Wahlkampf, dann wirkt dieser imaginative Film wie ein gigantischer Negativverstärker, zumal die SPD ihn mit ausgewählten O-Tönen anfüttert. Dass Merkel unterhalb dieser Cinemascope-Fantasie auch noch ganz einfach agiert und die politischen Prozesse weiter nach eigenen Regeln ablaufen, wirkt deshalb wie ein kleines Wunder. Dass sie nun tatsächlich einfach Kanzlerin wird, ist eigentlich seit dem 18. September eine Selbstverständlichkeit. Aber weil dieses „Die kann es nicht“ immer im Raum steht, wirkt eine solche Selbstverständlichkeit überraschend.

Und das ist Angela Merkels große Chance. Als „Token“ wird sie zwar immer weiter die angebliche politische Schwäche aller Frauen mit sich herumtragen. Aber wenn sie dieses Bild unterläuft, steht sie plötzlich als „Ausnahmefrau“ umso strahlender da. Gegen alle Erwartungen ist sie Parteichefin, gegen alle Erwartungen Kanzlerin geworden. Gegen alle Erwartungen wird sie es wahrscheinlich sogar eine Weile bleiben. Das verleiht ihr eine Aura, die nur entstanden ist, weil sie einfach immer noch da ist. Und schließlich gibt es auch noch einen Teil schlichter Machttechnik, die sich nach einfachen Gesetzen richtet. Eines davon heißt: Macht macht Macht. Wer sich als CDU-Chefin behauptet hat, wer die Wahl gewonnen hat, wer schließlich im Kanzleramt landet, der bekommt Unterstützung. Sogar wenn er eine Frau ist.