: Beben schüttet Feindschaft nicht völlig zu
Pakistan macht vom Hilfsangebot Indiens bisher keinen Gebrauch. Guerillagruppen verkünden Waffenstillstand
DELHI taz ■ Auch in Indien ist die Zahl der Erdbebenopfer inzwischen auf über 600 gestiegen. Darunter fallen zahlreiche Soldaten, deren exponierte Erdstellungen beim Beben zusammengebrochen waren oder von Erdrutschen mitgerissen wurden. Das Ausmaß der Katastrophe kann aber von der Armee und nationalen Hilfsorganisationen bewältigt werden. Dies ist mit ein Grund für Indiens Hilfsangebot an Pakistan, das man aber wegen der, in den Worten des pakistanischen Staatschef Musharraf, „leidigen politischen Sensibilität“ bisher noch nicht aufgenommen hat.
Die Eigendynamik eines fünfzehnjährigen Guerilla-Kriegs im Kaschmir zeigt sich auch darin, dass es selbst nach dem Beben vom Samstagmorgen zu bewaffneten Zwischenfällen gekommen war. In der Jammu-Region wurden fünf Mitglieder einer Hindu-Familie von Unbekannten erschossen. In der Nacht auf Sonntag kam es zu einer Schießerei zwischen indischen Einheiten und einer Gruppe von acht Aufständischen, welche die Waffenstillstandslinie überschritten hatten. Alle wurden erschossen.
Inzwischen melden sich auch Stimmen, die einer Annäherung als Folge eines politischen Erdbeben-„Bonus“ wenig Chancen einräumen. Ein früherer indischer Botschafter in Islamabad meinte, keine der vielen indischen NGOs, sondern nur die indische Armee verfüge logistisch über die Fähigkeit, im benachbarten Staatsgebiet zum Einsatz zu kommen. Dagegen sprechen aber Stolz und Misstrauen. Die beiden Armeen haben vor sieben Jahren in diesen Bergen noch einen Krieg gegeneinander ausgefochten, den vierten in fünfzig Jahren. Solche Erinnerungen würden bei jedem indischen Rettungsflug den Verdacht einer feindlichen Erkundung wecken.
Es gab aber auch positive Signale. Der wichtigste Verband von Untergrundgruppen, der „Vereinigte Dschihad-Rat“, hat inzwischen einen Waffenstillstand ausgerufen und die lokalen Kommandanten aufgefordert, sich für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Ein indischer Soldat, der sich über die Grenzlinie auf pakistanisches Gebiet verirrt hatte, wurde am nächsten Tag wieder zurückgeschoben – noch vor kurzem wäre er womöglich für Jahre in einem Gefangenenlager verschwunden. Eine wichtige Hoffnung auf einen Brückenschlag wurde aber am Sonntag geknickt. Es zeigte sich, dass die wichtigste mögliche Route für Hilfstransporte aus Indien in das schwer versehrte pakistanische Muzaffarabad nicht mehr befahrbar war, da an der Grenzbrücke im Jhelum-Tal Schäden festgestellt wurden.
BERNARD IMHASLY