: Kompetenz zum Streichen
SPD, CSU und CDU streiten um die Richtlinienkompetenz, als ob sie noch etwas gestalten könnten. Sie werden vor allem kürzen – beim Mittelstand, den sie als „Mitte“ umwerben
Große Koalition – und die Deutschen sind irritiert. Fast niemand ist glücklich mit dem Wahlausgang. 75 Prozent der Befragten geben an, dass sie die Elefantenhochzeit für eine „Notlösung“ halten. Doch keine andere der möglichen Koalitionen wäre beliebter. Dazu passt, dass fast jeder Bürger wieder das Gleiche wählen würde, obwohl niemand mit dem Ergebnis zufrieden ist. Die Deutschen sind entschieden unentschieden.
Ähnlich ambivalent sind die sozialpolitischen Erwartungen. So konnte das konservative Umfrageinstitut Allensbach schon vor der Wahl freudig melden, dass 76 Prozent der Deutschen „weiteren Reformbedarf“ sehen. Die bisherigen Anstrengungen begrüßten jedoch nur 38 Prozent der Befragten. Etwas ratlos fasst Allensbach zusammen: „Nutzen der Reformen umstritten.“ Bei aller Skepsis gegen Umfragen: Hoffnungslose Hoffnung scheint sich auszubreiten.
Mit Ratlosigkeit ist schwer umzugehen. Also inszeniert die Politik Normalität – und vor allem Kontinuität. Das beginnt schon bei den Personen. Das neue Kabinett Merkel ist überraschungsfrei und ziemlich alt, so weit den Gerüchten zu glauben ist. Nur langjährig Bewährte bekommen eine Chance. Einzig der künftige Außenminister könnte erstaunen – weil die Personaldecke bei der SPD inzwischen zu dünn ist, um allein die bekannten Funktionäre zu recyceln.
Im munteren Verhandeln über Posten, Personen und Positionen wird verdrängt, wie ungewöhnlich die Gegenwart ist. Es ist schon fast vergessen, dass vor fünf Monaten niemand erwartet hätte, dass es Neuwahlen geben würde, eine bundesweite Linkspartei im Bundestag sitzt und Schröder Geschichte ist.
Wir leben in einer Zeit der politischen Beschleunigung, doch wird mit Entschleunigung reagiert. „Weiter so“, heißt das Motto. Sowohl die SPD als auch die CDU haben sich von ihren Programmen verabschiedet. Gesundheitsprämie und Bürgerversicherung sind abgesagt; die Tarifautonomie bleibt, der Sonntagszuschlag auch. Das kann man alles gut finden, doch zeugt es von Fantasielosigkeit, dass den alten Vorschlägen keine neuen folgen.
Auch die Linkspartei stört in dieser inszenierten Normalität nicht mehr, hat man doch beschlossen, sie zu ignorieren. Diese Haltung ist längst Habitus: Wer als Akademiker auf sich hält, darf über die Linkspartei nur spottend sprechen. Abweichler werden mit Peinlichkeit bestraft. Haben sie etwa noch nicht begriffen, dass das Linksprogramm „nicht finanzierbar“ ist? Besonders grüne Spitzenpolitiker haben dieses Argument für sich entdeckt, um die lästige Oppositionskonkurrenz loszuwerden. Dabei wird jedoch nur offenbar, dass die Grünen-Spitze das eigene Programm nicht kennt. Beispiel Hartz IV: Die Linkspartei will 420 Euro als Arbeitslosengeld II; die „moderne Linkspartei“ namens Grüne fordert – verklausuliert – letztlich 412 Euro. Acht Euro entscheiden, wer als Spinner politisch ausgegrenzt wird.
Wie die Linkspartei wird auch die Realität behandelt: Sie wird ignoriert. So waren die Renten bei der Wahl kein Thema – obwohl dort alle Reserven aufgebraucht sind. Die Immobilien wurden verkauft, die Schwankungsreserven fast aufgelöst, die Buchungstricks genutzt. 2007 steht eine Entscheidung an: Sollen die Renten sinken oder der soll der Steuerzuschuss steigen?
Doch das ist eine Verteilungsfrage – und die war schon immer unangenehm, sobald es den Mittelstand trifft. Zumal diese geschätzte Klientel gerade wieder zum Konzept avanciert: SPD und Union drängt es erneut in die „Mitte“. Ihre Gunst soll nun erkauft werden. So fordert die SPD ein staatliches Elterngeld, das berufstätige Mütter oder Väter ein Jahr lang mit 67 Prozent ihres Nettogehalts alimentiert. Effekt: Kinder eines Lehrers wären mehr wert als jene einer Verkäuferin. Könnte doch der beamtete Akademiker mit knapp 3.000 Euro monatlich rechnen, die Kassiererin nur mit 700 Euro. Das Konzept der Mitte ist eine Ausgrenzung nach unten.
Ein Gutes hat der Plan: Er dürfte nicht zu finanzieren sein, obwohl er angeblich nur 1,3 Milliarden Euro kosten würde. Doch die Realität der Haushaltslöcher ist stärker. Bisher kommt sie bei den Politikern nur sehr vermittelt an – in Form einer abstrusen Debatte, wer sich als Sieger der Ressortverteilung fühlen darf. So attackierte Nochwirtschaftsminister Clement jetzt SPD-Chef Müntefering, weil er die falschen Regierungsposten herausgehandelt habe – nämlich nur die „Problemlösungs“-Ressorts wie Arbeit, Gesundheit oder Finanzen. Stattdessen hätte man die „Gestaltungsministerien“ erobern müssen, nämlich Bildung oder Familie. Das ist eine erstaunliche Neudefinition, denn beide Ressorts galten bisher als einflusslos, weil sie kaum Geld zu verteilen hatten. Doch auf der Flucht vor den real existierenden Defiziten verschieben sich die Glamour-Faktoren im Kabinett.
Und Glamour muss sein. Fix halten die Politiker an der Idee fest, sie könnten gestalten. Diese Selbstüberschätzung kulminiert momentan in dem Streit, ob Kanzlerin Merkel ihre „Richtlinienkompetenz“ beanspruchen darf. Dabei wird beharrlich übersehen, dass diese Kompetenz nur noch darin bestehen wird, sehr unangenehme Streichbeschlüsse zu verkünden.
Denn diese Kürzungen werden erstmals jene Mittelschichten massiv treffen, die man als „Mitte“ umwirbt. Doch eine sehr beliebte Alternative existiert nicht mehr: Bei den Unterschichten lässt sich nicht weiter streichen – Hartz IV hat bereits alle Langzeitarbeitslosen auf das niedrigste Niveau gestürzt.
Der SPD wird es daher nichts nützen, im Koalitionsvertrag festzuhalten, dass die Nacht- und Feiertagszuschläge weiterhin steuerfrei bleiben. Umgekehrt wird die Union einsehen müssen, dass sie die Eigenheimzulage nicht retten oder mit Steuersenkungen verrechnen kann. Interessant ist auch die Frage, wie lange es dauert, bis man bei den Pensionären kürzt, die im Durchschnitt ein Viertel mehr erhalten als Rentner. Alles sehr, sehr unangenehm. Noch hoffen die Großkoalitionäre sonnig, dass sich die Etatprobleme lösen, indem die Konjunktur anspringt. Doch schon länger stellen die Sozialkassen fest: Die Lohnsumme sinkt, obwohl die Wirtschaft wächst. Denn noch immer gehen sozialversicherungspflichtige Stellen verloren.
Wenn die Regierung nicht bei der „Mitte“ kürzen will, muss sie Steuern beitreiben. Es ist bezeichnend, dass in den Koalitionsverhandlungen nicht ausgeschlossen wurde, dass die Mehrwertsteuer steigt. Klar ist, dass sie jene überproportional belastet, die nicht sparen können und ihr gesamtes Geld für Konsum aufwenden. Das sind die unteren 40 Prozent der Gesellschaft.
Dennoch könnten die Folgen auch unerwartet sein, könnten nicht zur inszenierten Normalität passen: In einer tendenziell stagnierenden Wirtschaft würde die Mehrwertsteuer zumindest teilweise wie eine zusätzliche Unternehmensteuer wirken, weil sie sich nicht mehr ganz auf die Preise überwälzen lässt. Angela Merkel ist nicht zu beneiden: Sie wird den irritierenden Verteilungsfragen nicht entkommen. ULRIKE HERRMANN