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Archiv-Artikel

„Der Reformprozess wird kastriert“

Die große Koalition wird zu einer einzigen Blockade führen, fürchtet der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Der Preis für diese Regierung ist zu hoch, gewinnen werden nur die Strukturkonservativen in Gewerkschaften und Linkspartei

taz: Herr Wehler, Angela Merkel spricht von einer „Koalition der neuen Möglichkeiten“. Zu Recht?

Hans-Ulrich Wehler: Ich befürchte nein. Bislang sieht es so aus, als seien SPD und CDU bemüht, alle Reformbemühungen abzustellen. Sei es die Reform des Kündigungsschutzes, sei es die Besteuerung von Nacht- und Wochenendzuschlägen – deren Steuerfreiheit übrigens die Nationalsozialisten eingeführt haben, um die Rüstungsproduktion anzukurbeln. Was bisher ausgehandelt wurde, sieht nach Blockade aus.

Die Wähler wollten offenbar genau diese Dinge bewahren …

So interpretieren das die Verteidiger des Status quo, wie die Gewerkschaften, die seit Jahren einem strikten Strukturkonservativismus anhängen. Man könnte aber die relativ gleichmäßige Unterstützung von Schwarz-Gelb und Rot-Grün als Ermunterung für maßvolle Reformen herauslesen. Ich finde es schade, dass die Verhandlungen scheinbar auf die Kastration des Reformprozesses hinauslaufen.

Besteht darin das Wesen der großen Koalition?

Es müssen zwei große Blöcke zusammengefügt werden. Bei einem Gleichgewicht der Volksparteien ist es kaum zu vermeiden, dass man die strittigen Punkte völlig entschärft.

Was würden Sie denn mit dem Wahlergebnis anfangen?

Es gibt ein Haushaltsloch von fast 60 Milliarden Euro. Auch wenn es Heulen und Zähneklappern geben wird, muss rigoros gekürzt werden – allein weil uns die EU sonst ein Strafprogramm verordnet. Wer auch immer Finanzminister wird, muss einen Haushaltsentwurf vorlegen, der diese Lücke stopft.

Stärkt die große Koalition den politischen Rand?

In der ersten großen Koalition von 1966 bis 1969 hat es sich nicht bewahrheitet, dass der rechtsradikale Rand gestärkt wurde. Die NPD hat sich damals nicht expansionsfähig gezeigt, und sie ist es heute nicht. Linke Parteien haben sich auch nicht etabliert. Dieses Mal werden die wirklich Konservativen gestärkt: die Anhänger der Linkspartei, die noch immer voller Sehnsucht auf die Wachstumszahlen und den großen Kuchen der Fünfziger- und Sechzigerjahre schauen. Ich war erschrocken, als ich das letzte Buch von Oskar Lafontaine gelesen habe: Ich verstehe nicht, dass ein intelligenter Mann so fixiert sein kann auf die Sondersituation des Wirtschaftswunders und glaubt, ohne einen Blick auf den Einfluss der Globalisierung in dieses Wunderland zurückmarschieren zu können.

Bei diesen geringen Erwartungen an die große Koalition: Hätte man sich die Neuwahlen sparen sollen?

Ich habe die Neuwahlen immer für eine klassische Fehlentscheidung gehalten. 94 Prozent der rot-grünen Gesetze sind im Vermittlungsausschuss durchgegangen: Die informelle große Koalition hat ja schon praktisch funktioniert. Sie hätte auch noch ein weiteres Jahr funktioniert. In der jetzigen Sondersituation ist die Linkspartei entstanden, und beide Volksparteien haben deutlich verloren – das ist nicht erquicklich. Ich als Kind der alten Bundesrepublik schätze die Berechenbarkeit der Volksparteien. Der Preis für die Neuwahl war sehr hoch.

Hätten der Bundespräsident und das Bundesverfassungsgericht einschreiten müssen?

Horst Köhlers Entscheidung ist aus seiner Position heraus verständlich: Er hat als Gefolgsmann von Angela Merkel gehandelt, und das Wahlergebnis hat ihn wahrscheinlich genauso bedrückt wie andere auch. Die Argumente der Neuwahlgegner vor dem Verfassungsgericht fand ich stichhaltig. Durch die jetzige Fehlentscheidung ist der Spielraum für willkürliche Kanzlerentscheidungen gewachsen. Es wäre ein reinigendes Gewitter gewesen, wenn sich das Gericht dem Urteil von Bundestag, Bundesrat und Horst Köhler entgegengestellt hätte.

1969 folgte auf die große Koalition eine SPD-geführte Regierung. Wer regiert Deutschland in vier Jahren?

Die SPD hat – anders als in den 60ern und 70ern – den strukturellen Nachteil, dass sie keine profilierten Nachwuchskräfte hat. Hinter Schröder tut sich eine riesige Lücke auf. Die CDU ist mit ihrer Ministerpräsidentengarde besser aufgestellt. Letztlich wird es darauf ankommen, ob Angela Merkel die wichtigsten Gesetzesprojekte durchbringt. Wenn Sie inhaltlich scheitert, werden Merz und Wulff und Koch mit ihrer Kritik am schlechten Wahlkampf noch herausrücken.

Wird Angela Merkel dieser Kritik standhalten können?

Allgemein gilt ja der Satz, dass der verliert, der Frau Merkel unterschätzt. Aber wenn es zum Schwur kommt – und sie sich etwa auf ihre Richtlinienkompetenz berufen muss –, muss sie ihre Führungsstärke erst noch beweisen. Bisher war sie reine Parteipolitikerin. Die eigentliche Bewährungsprobe als Staatslenkerin kommt noch.

FRAGEN: KLAUS JANSEN