Nicht das Maß aller Literatur

Die Nobelpreisjury muss den Spagat zwischen Genres und Sprachräumen schaffen. Mit der Wahl Pinters hat sie die Erwartungen gekonnt unterlaufen

Harold Pinter? Ist das eine Enttäuschung! Eine miese Entscheidung! So lauteten erste Reaktionen bei uns in der Kulturredaktion, und schon liefen auch über die Ticker erste verblüffte Reaktionen von Großkritikern wie Sigrid Löffler („bizarre Wahl“) oder Denis Scheck, der die Wahl Pinters gleich als eine „Beleidigung der Weltliteratur“ bezeichnete. Nun könnte man fragen: „Meine Güte! Warum nicht Harold Pinter?“, mag er als Dramatiker noch so aus der Mode sein und unsereinem so gar nichts mehr sagen.

Zu verstehen sind die harschen Reaktionen auf diese Entscheidung der Akademie nur vor dem Hintergrund der großen Bedeutungsaufladung, die der Literaturnobelpreis zuletzt erfahren hat – als hinge das Schicksal der Literaturen der Welt und die Inthronisierung von Klassikern allein von 18 schon betagteren Herren und Damen und ihrer einen jährlichen Entscheidung ab.

Allein in diesem Jahr sorgte zuerst die Verschiebung der Bekanntgabe für eine umso gespanntere Erwartungshaltung, die dann der „Nobelpreisskandal“ um den Austritt des Akadmiemitglieds Knut Ahnlund auf die Spitze trieb. Ahnlund sprach spät, aber zeitlich geschickt terminiert davon, die Auszeichnung an Elfriede Jelinek 2004 habe „den Wert der Auszeichnung auf absehbare Zeit zerstört“, und kritisierte Jelineks Werk in Grund und Boden. Vielleicht hat er wirklich vor dem Hintergrund seines Wissens um eine mögliche Preisverleihung an Pinter seinen Angriff gestartet, und er wird sich aufgrund der zwiespältigen Reaktionen nur bestätigt sehen.

Tatsächlich stellt sich die Frage nach dem Wert dieses vermeintlich obersten Literaturpreises, und das nicht nur der Umstrittenheit Jelineks und Pinters wegen. Und es stellt sich die Frage nach dem Literaturbegriff, dem dieser Preis zugrunde liegt, und den Bedingungen unter denen er verliehen wird. Dass Liebhaber großer US-Erzähler lieber Philip Roth, Don DeLillo oder John Updike als Preisträger gesehen hätten, versteht sich von selbst. Doch geht es der Akademie eben um mehr, um Lyrik und Dramatik, auch aus literarisch entlegenen Weltgegenden. Und sie muss zwischen literarischer Moderne und Postmoderne wählen. Dazu steht sie vor demselben Problem, das in den USA jedes Mal, wenn Pulitzer Preis und National Book Award vergeben werden, Diskussionen auslöst: Muss nicht auch Stephen King einmal einen großen Literaturpreis bekommen? Darf er das? Zumal sich die Grenzen zwischen E und U und den Genres sowieso anerkanntermaßen verwischt haben.

Letztes Jahr hat die Akademie eine mutige Entscheidung getroffen, als sie Jelinek den Preis zusprach; dieses Jahr eine mehr als rückwärtsgewandte, eine Vermeidungsentscheidung, um wen auch immer zu verhindern. Hätte sie ihren Literaturbegriff richtig erweitern wollen, wäre wohl Bob Dylan erste Wahl gewesen. Fragen darf man sich auch, ob ein paar ältere schwedische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller in der Lage sind, jedes Jahr das Maß aller Literatur zu bestimmen. Und ob es nicht umgekehrt eine Anmaßung ist, genau das von der Schwedischen Akademie zu erwarten. Das Verlangen nach Listen, Kanons, Kaufempfehlungen und Preisträgern ist zwar der besseren Orientierung halber größer denn je, deshalb diese Bedeutungsaufladung.

Doch gerade unter dieser Voraussetzung hat die Akademie mit dem Preis für Pinter eine fast weise Entscheidung getroffen: Sie hat keinen Ruf zerstört, sondern die Erwartungshaltung für die Zukunft souverän heruntergedimmt. Und dass die Literatur abseits von Booker-, Pulitzer-Büchner- und eben Nobelpreis in schönster Blüte steht, müsste sich ja sowieso von selbst verstehen. GERRIT BARTELS