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Archiv-Artikel

Familie endet im Kinderheim

In Nordrhein-Westfalen leben immer mehr Jugendliche in Kinderheimen, obwohl die meisten Kommunen seit Jahren ambulante Kinderhilfen anbieten. „Familien zerbrechen an Armut“

von MIRIAM BUNJES

Sein Vater ist arbeitslos, seit er denken kann. Seine Mutter hat immer mal wieder 400-Euro-Jobs. Beide trinken, beide streiten, beide prügeln. Vor drei Jahren war Sascha Pflegmann ein klassischer Fall fürs Jugendamt, sagt er selbst. Der 19-jährige Berufsschüler aus Dorsten betreut heute ein Internetforum für KinderheimbewohnerInnen und Jugendliche, die in Pflegefamilien wohnen. „Unsere Geschichten sind sich ähnlich“, sagt er. „Arbeitslosigkeit, Drogen, Gewalt: Mit Saufen und Prügeln fangen die Kinder dann oft selbst an – bis gar nichts mehr geht.“

Auf jeden Fall nichts mehr in der Familie: Fast 42.000 Kinder und Jugendliche holten die nord-rhein-westfälischen Jugendämter im vergangenen Jahr aus ihren Familien und brachten sie in Kinderheimen, betreuten Wohngruppen oder bei Pflegefamilien unter. Die Zahlen steigen: Vor fünf Jahren waren gerade mal 36.000 Kinder stationär untergebracht, 2002 waren es schon 38.500, so die Daten der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik der Universität Dortmund. „Die großen Hoffnungen, die die Städte in den 90er Jahren in die ambulanten Hilfeangebote gesetzt haben, zerschlagen sich“, sagt Erziehungswissenschaftler Jens Pothmann. Ambulant könnten zwar viele Probleme behandelt oder sogar gelöst werden, die ganz schlimmen jedoch offenbar nicht. Und davon gibt es offenbar immer mehr. „Kinderheime abschaffen kann auch in Zukunft keine Stadt, obwohl es immer weniger Kinder gibt.“ Pothmann ist sich sicher, dass wirtschaftliche Not für die Erziehungsprobleme nordrhein-westfälischer Eltern verantwortlich sind. „Daran wird sich bei dieser Arbeitsmarktsituation so schnell nichts ändern.“

Das fürchtet auch Thomas Frings vom Gelsenkirchener Jugendamt. Wie viele Heimkinder in der Stadt mit den landesweit meisten Arbeitslosen leben, will der Abteilungsleiter nicht in der Zeitung lesen. „Es werden seit Jahren immer mehr, das ist doch überall im Ruhrgebiet so“, sagt er. „Das ist die Armut, daran zerbrechen die Familien.“

Auch in anderen Städten wird über die Zahlen der in stationärer Hilfe lebenden Jugendlichen lieber geschwiegen. Im westfälischen Unna sollen sie sich innerhalb eines Jahres verdoppelt haben, meldete der WDR. Im städtischen Jugendamt will niemand diese Zahlen bestätigen. „Ich kann das nicht ausschließen“, sagt eine Mitarbeiterin, die nicht genannt werden will.

„Bei uns greift die ambulante Familienhilfe, wir müssen Jahr für Jahr weniger Kinder unterbringen“, sagt dagegen Jutta Krampe vom Dortmunder Jugendamt. In Dortmund leben rund 1.000 unter 18-Jährige in Heimen oder Pflegefamilien. Die Stadt zahlt dafür rund 40 Millionen Euro.

„Manchmal müssen die Kinder einfach nur raus aus ihrer Familien, so schnell wie möglich“, sagt Kurt Frey, Leiter des heilpä-dagogischen Kinderheims in Hamm. Seine BewohnerInnen sind größtenteils zwischen 13 und 16 Jahren alt, alle haben jahrelange Erfahrung mit massiver Gewalt. „Sonst hätte ja ein ambulantes Angebot gereicht.“

In ambulante Angebote soll aber trotz steigender Unterbringungszahlen weiter investiert werden, sagt Peter Dittrich vom Landesjugendamt. „Prävention ist die einzige Möglichkeit dem steigenden gesellschaftlichen Hilfebedarf zu begegnen.“

Für Sascha Pflegmann waren die drei Jahre im Kinderheim „der letzte Ausweg“, schreibt er auf seiner Internetseite. „Nach zwei Misserfolgen bei Pflegeeltern musste ich etwas anderes als Familie probieren. Und es war besser.“