: Zufallsfund mit Folgen
Bei der „Cicero“-Durchsuchung stießen die Ermittler auf alte Dokumente, die sie gar nicht suchten. Jetzt drohen weitere Verfahren die Pressefreiheit einzuschränken, doch Kritik prallt an Otto Schily ab
AUS BERLIN ASTRID GEISLER
Eine Affäre, ein Skandal? Otto Schily versteht diese Leute nicht, die sich da auf ihn stürzen. Wozu hat er denn soeben dem Innenausschuss verklickert, dass weder er noch sein Ministerium, weder das Bundeskriminalamt noch die Staatsanwaltschaft sich etwas vorzuwerfen haben wegen der Cicero-Razzia? Hören die alle nicht zu? „Ich bitte Sie – wo ist denn hier der Skandal?“
Seine Kollegen aus dem Bundestag haben dazu eine selten einmütige Meinung. Weder für die Vertreter der Union noch für Schilys SPD-Parteifreunde sind die vom BKA veranlassten Durchsuchungen in der Redaktion des Magazins Cicero und im Privathaus des Journalisten Bruno Schirra ein erledigter Fall. Im Gegenteil. Was mit zwei fragwürdigen Razzien begann, wächst sich zum Grundsatzstreit aus: Ist die Arbeit mit vertraulichen Behördenpapieren eine wichtige Facette des investigativen Journalismus? Oder eine Straftat?
Folgt man der Argumentation der Staatsanwälte im Fall Cicero, dann gilt ab sofort Letzteres. Nach den Strafverfolgern in Potsdam hat auch die Berliner Staatsanwaltschaft inzwischen Verfahren gegen Schirra und bislang unbekannte Staatsdiener eingeleitet, die ihm als geheim eingestufte Papiere zugespielt haben. Der Vorwurf ist stets der gleiche: Verrat von Dienstgeheimnissen.
Die neuen Verfahren fußen laut Staatsanwaltschaft auf „Zufallsfunden“, die Fahnder in Schirras Haus machten und die sie an ihre Berliner Kollegen weiterreichten. Das heißt: Die Ermittler fanden in dem Archiv des Journalisten zwar nicht das Papier, nach dem sie eigentlich suchten – ein als „nur für den Dienstgebrauch“ eingestufter BKA-Bericht über den Terroristen Abu Mussab al-Sarkawi, aus dem Schirra in Cicero umfänglich zitiert hatte. Dafür fielen ihnen diverse andere Papiere in die Hände, auf denen „Geheim“-Stempel prangten. Nicht verwunderlich, denn Schirra berichtete unter anderem in der Zeit über die Leuna-Affäre, über Panzerdeals, die CDU-Parteispendenaffäre. Dabei stützte er sich auf vertrauliche Unterlagen aus allerhand Beamtenstuben. Diese Papiere lagen seither in seinen Regalen, zum Teil seit Jahren. „Damals hat das keinen Staatsanwalt interessiert“, sagt der Journalist. „Keiner kam auf die Idee, Ermittlungen einzuleiten.“
Inzwischen hat die Justiz in Berlin und Potsdam offensichtlich umgedacht: Es möge ja „tägliche Praxis“ für Journalisten sein, aus vertraulichen Unterlagen zu berichten, argumentiert Frank Thiel, Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft. „Strafbar bleibt es trotzdem.“ Zur Erklärung liefert er folgenden Vergleich: „Im Bauwesen ist es auch gängig, Schmiergelder zu zahlen – und es ist dennoch weiterhin strafbar.“ Deshalb habe die Staatsanwaltschaft weitere Verfahren einleiten müssen. Die Argumentation deckt sich mit Schilys Sicht. Auch der Minister sagt: „Es gibt keinen rechtlichen Freiraum für Journalisten, sich an Straftaten zu beteiligen.“
Innenexperten aus dem Parlament reagieren irritiert. „Wenn Schily seine Argumentation ernst meint“, sagt der Grünen-Politiker Volker Beck, „dann darf kein Journalist mehr über einen Geheimdienstskandal berichten, ohne dass ihm ein Strafverfahren droht.“ Es sei abenteuerlich, die Rolle von Journalisten mit der von Schmiergeldzahlern oder Hehlern auf eine Stufe zu stellen. Auch SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz äußert sich besorgt: „Wir stellen die journalistische Arbeit in Frage, wenn jeder Umgang mit vertraulichem Material schon als fragwürdig, wenn nicht gar kriminell gilt.“
Ob die Verfahren gegen Schirra tatsächlich zu Anklagen führen, ob sie Nachahmer in anderen Staatsanwaltschaften finden, weiß bisher keiner. Schily-Kritiker wie Beck plädieren dafür, Gesetzesreformen erst anzugehen, wenn die Justiz entschieden hat. Das könnte sich auch aus anderem Grund lohnen. Wolfgang Schäuble (CDU), als Innenminister im nächsten Kabinett gehandelt, ließ inzwischen wissen, ihm gingen die Razzien „entschieden zu weit“.