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Archiv-Artikel

„Mein Gott. Wir haben zwanzig erschossene Kinder“

AKTIVISTEN Lori Haas kämpft für schärfere Kontrollen, seitdem ein Amokläufer ihre Tochter im Jahr 2007 schwer verletzte

Lori Haas

■ 54, ist die Mutter von Emily, die bei der Schießerei an der Universität Virginia Tech am 17. 4. 2007 mit zwei Kugeln in den Kopf verletzt wurde. Lori Haas ist in der „Coalition to Stop Gun Violence“ in Washington, D. C. aktiv, die für Schusswaffenkontrolle eintritt. Ein Student erschoss damals an der Virginia Tech 32 Menschen. Lori Haas’ Tochter hat überlebt. Sie ist heute verheiratet und arbeitet als Lehrerin.

taz: Frau Haas, vor fünf Jahren wurde Ihre Tochter bei dem Amoklauf an der Virginia Tech schwer verletzt. Können Sie beschreiben, wie jetzt die Situation der Angehörigen der Opfer in Newtown ist?

Lori Haas: Ich glaube nicht, dass irgendjemand die richtigen Worte hat, um das zu beschreiben. Es ist zu schrecklich. Es ist Furcht und Schmerz und Seelenqual.

Sie organisieren an diesem Wochenende in Ihrer Stadt Richmond in Virginia eine Kerzenwache für die Opfer von Newtown. Gibt es etwas, womit Außenstehende den Angehörigen und den Opfern helfen können?

Unterstützung zeigen, beten, Beileidskarten schicken, Mahnwachen für die Opfer abhalten – das alles ist wunderbar. Und es kommt von Herzen. Aber ich denke, was Leute in diesem Land vor allem tun können, ist, ihre gewählten Vertreter dazu zu zwingen, aktiv zu werden. Um die Opfer zu ehren. Und um sicherzustellen, dass es keine weiteren Opfer in der Zukunft gibt. Die Politiker müssen einen Plan vorlegen.

Präsident Barack Obama hat von „bedeutungsvollen Aktionen“ gesprochen. Reicht das?

Ich möchte Vertrauen haben und ich hoffe und ich bete, dass er hinter seinen Worten steht. Und dass er es ernst meint, wenn er „Aktion“ sagt. Es gibt konkrete Schritte, die wir tun können, um die Morde zu stoppen, die an jedem Tag in diesem Land stattfinden.

Welche Schritte meinen Sie?

Wir müssen die Schusswaffen von unseren Straßen holen. Killerwaffen gehören nicht in jedermanns Hände. Das sind Waffen für Soldaten, die damit umgehen können. Wir müssen die Überprüfung der Hintergründe verbessern, wir müssen alle Waffenkäufer und alle Waffenverkäufer kontrollieren, und wir müssen Schnellfeuerwaffen und Hochleistungsmagazine verbieten. Wir müssen auch daran arbeiten, unsere Familien und unsere Gemeinden von Waffengewalt frei zu halten.

Woran liegt es, dass es in den USA so viel Toleranz gegenüber Waffen und Waffenbesitz gibt?

Das trotzt jeder Intelligenz. Das gehört nicht in eine zivilisierte Gesellschaft. Es macht keinen Sinn. Wir sind klüger, menschlicher und teilnahmsvoller als das. Wir haben Lobbyisten, die unsere gewählten Vertreter im Würgegriff halten. Ich hoffe, dass sie ignoriert werden. Und dass ihr Einfluss beseitigt wird. Sie wollen ausschließlich Geld machen. Nichts anderes. Ihnen geht es nicht um die Beteiligung an der Debatte.

Wer ist diese Lobby?

Die NRA – die National Rifle Association (mit 4,3 Millionen Mitgliedern, d. Red.). Wayne LaPierre ist ihr Sprecher. Er ist ein hoch bezahlter Lobbyist. Alles, was er will, ist, Waffen zu verkaufen. Egal, wen sie verletzen und wie viele sie töten. Er will sein Gehalt haben. Eine Meinungsumfrage von Juli zeigt, dass selbst drei von vier NRA-Mitgliedern für eine Überprüfung des Hintergrunds bei allen Waffenkäufern sind. Aber die Führung und die Lobbyisten der NRA ignorieren das. Dabei hindern solche Überprüfungen ausschließlich illegale Käufer am Waffenerwerb.

Warum verlangen Sie nicht ein generelles Verbot von Feuerwaffen in Privathänden?

Ich persönlich benötige keine Feuerwaffen. Aber die Realität ist, dass Schießen, Sportschießen und Jagen in dieser Gesellschaft dazugehören. Ich glaube, das wird noch lange Zeit so bleiben. Wir müssen die erste Hürde nehmen und die Überprüfungen verbessern. Das steht jetzt an.

Sie scheinen zu glauben, dass aus diesem schrecklichen Ereignis an der Sandy-Hook-Grundschule ein positiver Impuls ausgehen könnte.

Mein Gott. Wir haben 20 erschossene Fünfjährige [wie sich herausgestellt hat, waren die Opfer sechs und sieben Jahre alt; d. Red.]. Das kann niemand tolerieren. Da wird die Forderung nach Schusswaffenkontrolle immens werden. Seit Juli hatten wir in Amerika die Massenschießerei im Kino in Aurora, dann in dem Sikh-Tempel in Wisconsin, dann sechs Tote in Minnesota, dann eine Schießerei in einem Kurbad mit sechs getöteten Frauen und in dieser Woche eine Schießerei in einem Einkaufszentrum.

Die großen US-Medien sprechen mehr von Prävention und von der Psychologie der Täter als von Waffenkontrolle.

Einige fortschrittliche Sender haben darüber geredet. Aber natürlich wird es in den nächsten Tagen zunächst darum gehen, was passiert ist, und um die Opfer. Aber niemand kann die Notwendigkeit der Waffenkontrolle in dieser Gesellschaft ignorieren.INTERVIEW: DOROTHEA HAHN