: Glückliche Tage in Sarajevo
Vor zehn Jahren begann wieder das Leben – und mit den Traueranzeigen auch die Aufarbeitung der Erinnerungen
Es waren damals sonnige Herbsttage im Talkessel von Sarajevo 1995. Noch Wochen vorher hätte sich niemand nach draußen gewagt. Denn fast jede Straße war bei einer solchen Wetterlage von den Belagerern, die sich seit dreieinhalb Jahren auf den umliegenden Berghängen verschanzt hatten, gut einzusehen. Die Scharfschützen hatten Wochen vorher noch alles ins Visier genommen, was sich irgendwie bewegte. Doch jetzt schwiegen die Waffen. Der Waffenstillstand hielt. Und bald sollte in Dayton, Ohio, über einen Friedensvertrag verhandelt werden.
Blasse Menschen kamen aus den Kellern und Wohnungen. Sie hatten überlebt. Manche tanzten auf der Straße. Andere gingen an die Front und schauten auf die andere Seite. Autobesitzer versuchten ihre stillgelegten Gefährte in Gang zu setzen. Die Straßenbahn fuhr wieder von der Altstadt durch die Titostraße über die Sniperallee nach Novo Sarajevo. Und endlich konnten Freunde und Familien sich ohne Gefahr gegenseitig besuchen.
Es waren glückliche Tage in Sarajevo. Es gab wieder zu essen. Es gab endlich den geliebten Kaffee. Die Kneipen und Cafés eroberten sich mit ihren Stühlen und Tischen die Trottoirs. Die Menschen umarmten sich. Doch war die Freude getrübt durch die Erinnerung. An den Bruder, die Frau, die Nachbarn, die im Kugelhagel gestorben waren, 15.000 Menschen, unter ihnen 4.000 Kinder. Viele machten sich daran, die in provisorischen Gräbern in Parks und Hinterhöfen Liegenden auf den Friedhöfen würdevoll zu bestatten.
Zwar war die Tageszeitung Oslobodjenje (Befreiung) auch während des Krieges täglich erschienen. Doch wer hatte es schon geschafft, eine Anzeige in dem Blatt zu lancieren? An Häuserwänden waren Traueranzeigen aufgetaucht, auf weiße Blätter gemalt. Denn die bei Muslimen traditionell grün, bei Christen schwarz umrandeten, mit den Fotos der Toten ausgestatteten Plakate, gab es während des Krieges nicht. Und auch nicht mehr die Bäume, die in Friedenszeiten als Litfaßsäulen dienen. Jetzt aber war es endlich möglich, allen die eigene Trauer zu zeigen, öffentlich an die nächsten Menschen zu erinnern.
Die Todesanzeigen von damals sind heute zu Dokumenten geworden, aus denen tiefer Schmerz spricht, doch selten Hass oder Revanche. „Indira, Jasmina, unsere lieben kleinen Mädchen, es ist zu wenig Zeit vergangen, um unsere Trauer zu mildern.“
Auf einer Brücke über den Fluss Miljacka erinnert eine Tafel an Suada Deliberovic, eine 21-jährigen Studentin aus Dubrovnik, dem ersten Opfer des Krieges im April 1992. Und vom Eckhaus einer engen Gasse im Stadtteil Ciglane blickt das in Stein gehauene Gesicht eines Mädchens. Samira, 12 Jahre alt, wurde am letzten Tag des Krieges von einer Granate getötet. „Hass verdirbt die eigene Seele“, sagte kürzlich eine Frau, die ihre gesamte Familie in dem Kugelhagel von damals verloren hat. Zehn Jahre nach dem Krieg sind keine Racheakte bekannt geworden. Die Verantwortlichen werden durch die Kriegsverbrechertribunale in Den Haag und Sarajevo abgeurteilt. Auch irgendwann die beiden wichtigsten, noch flüchtigen Führer der serbischen Extremisten, Ratko Mladić und Radovan Karadžić.
Heute sehen die Anzeigen wieder anders aus. Normal. Wie bei uns. Auffallend häufig werden Männer im Alter zwischen 35 und 50 betrauert. Sie stammen aus der Generation, die damals in den Schützengräben die Stadt verteidigt hat. ERICH RATHFELDER