„Ein verrottetes System“

Doping-Aufklärer Werner Franke über das Ethos des Wissenschaftlers, allein der Wahrheit verpflichtet zu sein, und das kollektive Versagen im Kampf gegen Doping. „Der Staat hat eine Sehnsucht, die Leute doofgläubig zu halten“, sagt der Zellbiologe

INTERVIEW JUTTA HEESS
UND MARKUS VÖLKER

taz: Herr Franke, Sie sind ein langjähriger Kämpfer gegen Doping. Warum machen Sie sich jetzt auch für positiv getestete Athleten wie den kenianischen Mittelstreckler Bernard Lagat stark?

Werner Franke: Weil nur das glaubwürdig ist. Ich kann doch nicht als Naturwissenschaftler angesichts schlechter Tests oder falscher Ergebnisse unschuldige Menschen in ihr Lebensunglück stürzen lassen. Das wäre ja vergleichbar einem Gottesurteil und dem Verbrennen von Hexen auf dem Marktplatz.

Und woher weiß man, dass das Testergebnis falsch ist?

Ich weiß es, wenn ich es mir angekuckt habe. Mein Mitarbeiter Hans Heid hat den Fall Lagat untersucht, der 2003 angeblich positiv auf Epo getestet wurde (von der schwedischen Dopingkontrollfirma IDTM, d. Red.). Im Verfahren, das zu diesem Ergebnis kam, stecken elementare biochemische Böcke drin. Die B-Probe von Lagat wurde im Dopingkontroll-Labor in Köln untersucht und war negativ. Das ist leider kein Einzelfall.

Auch Sportler, die positiv sind, können Opfer sein?

Einige ja. Kenner können das sehen. Ich kann niemals als Naturwissenschaftler ein für mich erkennbar falsches Ergebnis aus so genannten erzieherischen Gründen und zur Abschreckung der Welt stehen lassen. Wenn ich als Wissenschaftler urteile, geht es um reine Wahrheit, um die Ehre.

Wenn Sie das richtig beurteilen können, wieso können es die Verbände und Dopingkontroll-Labore offenbar nicht?

In den Verbänden ist keiner, der Ahnung hat. Was die Labors betrifft, sind zum Beispiel der Fall Armstrong und die alten Proben von 1999 aufschlussreich. Manche meinen wirklich, das Doping-Labor in Chatenay-Malabry hätte das nicht messen und schon gar nicht mitteilen dürfen. Umgekehrt ist es richtig: Wenn sie Wissen haben, müssen sie es öffentlich machen. Dazu haben Wissenschaftler die verdammte Pflicht.

Sie rufen die Kontrolleure also dazu auf, ihre neutrale Rolle aufzugeben?

Sie haben keine neutrale Rolle. Sie sind nicht ausführende Organe oder Dienstleister irgendwelcher Sportverbände. Sie müssen aufklären. Sportverbände haben überhaupt keinen eigentlich Status, sie sind durch nichts kontrolliert. Sie wählen sich und sind manchmal korrupt.

Haben wir es also mit einem Alibi-Kontrollsystem zu tun, nur damit die Öffentlichkeit beruhigt wird?

Ich zitiere das Beispiel des kubanischen Hochspringers Javier Sotomayor: Er wurde zweimal positiv getestet, und dann hat die IAAF beschlossen, ihn nicht zu bestrafen wegen „seiner Verdienste um die internationale Leichtathletik“. Geht’s noch korrupter? Der Balco-Prozess zeigt doch, wie verrottet das System in Wirklichkeit ist.

Können Wissenschaftler in solch einem System als Aufklärer wirken?

Wenn sie als Wissenschaftler tätig sind, dann haben sie den Gesetzen der wissenschaftlichen Ethik Folge zu leisten. Da gibt es keine Geheimnisse. Das ist manchmal eine schlimme Pflicht. Doch allein der Wissenschaftler kann die Opfer schützen – vor Fehldiagnosen, Fehlbefunden im Doping, vor Kontamination mit HIV durch Blutprodukte oder vor Nebenwirkungen bei Medikamenten.

An welchen Stellen muss angesetzt werden, damit das Kontrollsystem effizienter wird?

Es wäre am besten, wenn es völlig aus dem Sport heraus in die Unabhängigkeit der reinen Wissenschaft geführt würde. Es wäre logisch, Wissenschaftler für Dopingkontrollen in das gleiche ethisch verpflichtende Gerüst zu nehmen wie Wissenschaftler in anderen Bereichen auch – wie etwa in der medizinischen Diagnostik und der Arbeit für Gerichte. Sport ist für viele Leute existenzbestimmend oder -bedrohend. Aber es geht nicht, dass ein Wissenschaftler sich nach einer positiven Dopingkontrolle auf die Lippen beißt, nur weil seine technische Assistentin von irgendeinem Radsportverband bezahlt wird.

Ist das ein Plädoyer dafür, dass der Staat sich in den Dopingkampf einschalten muss?

In gewisser Weise schon. Das Arzneimittelgesetz fordert das ja auch bereits. Der Staat kann nicht tolerieren, dass es einen Bereich gibt, in dem ein wesentlicher Teil seiner Jugend sich betätigt, in dem Menschenschicksale entschieden werden und in dem Korruption und Fehler passieren. Der Staat ist seiner Natur nach verpflichtet, Unschuldige zu schützen.

Könnte der Staat das besser als Sportverbände?

Ja, sicher. Wenn man einen Wissenschaftler als Professor des Staates mit der Urinkontrolle von Sportlern beauftragt, dann hat er nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Aber wenn die Sportverbände das nicht zulassen: In den Orkus mit ihnen! Würden Sie Ihre Tochter irgendwo hinschicken, wo sie deutscher Medaillen wegen androgene Hormone nehmen müsste?

Die Verbände lassen sich nicht so leicht in den Orkus stecken.

Ach was, ganz leicht. Wenn endlich einige Dinge rauskämen – aber man ist noch weit davon entfernt. Der Deutsche Leichtathletik-Verband und die IAAF (Internationaler Leichtathletik-Verband, d. Red.) wussten seit 2002 um den ungarischen Doping-Betrug mit sauberem Fremdurin, der über eine Plastik-Penis-Konstruktion abgeben wird (siehe Foto!). Man tut aber nichts. Das halte ich für korrupt. Wie kann ich als Funktionär zulassen, dass eine ganze Generation verscheißert wird, und noch sagen: „Ihr seid nicht gut genug! Ihr müsst mehr trainieren! Ihr müsst mehr im Kraftraum arbeiten!“ Oder nehmen wir diese Vaginalsäckchen, mit denen Katrin Krabbe damals betrog, die sind immer noch in Gebrauch. Lange Fingernägel – und ritz.

Diese Dinge sind doch bekannt.

Aber sie werden nur ganz selten im Klartext veröffentlicht. Auf den Sportseiten und im TV ganz selten.

Ein Versagen der Presse?

Ja, das ist Ihr Versagen. Das Versagen der Journalisten, der Öffentlichkeit. Machen Sie doch mal was Provozierendes, wenn Sie sich schon taz nennen! Zeigen Sie mal, wie der ungarische Diskuswerfer Fazekas bei den Olympischen Spielen in Athen betrogen hat. Zeigen Sie mal den Arsch und wie er das da reinmacht und vorne den Hodensack, wie er das festgeklebt hat und wo er rauspullert. Und alle wussten es: Der deutsche Trainer Günther Eisinger hatte es 2002 dem DLV haarklein mitgeteilt. Es ist unappetitlich, aber das ist der Sport, den das Innenministerium fördert. Auch die Medien haben doch diese abendländische Hemmung vor der Wahrheit.

Die Öffentlichkeit muss schockiert werden?

Absolut. Alles Drumherumreden können Sie vergessen. Es kann sich doch niemand etwas darunter vorstellen, wenn es heißt, die Sportler hätten da irgendetwas gemacht mit künstlichem Urin und so.

Wenn wir schon bei Medienschelte sind: Sie kritisieren auch die Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen über die Tour de France?

Ich kritisiere, dass aus eigenem Interesse verfälschend über die Tour de France berichtet wird. Verfälschung der Wahrheit aus eigenem Interesse ist klassische Korruption. Wie kann es denn sein, dass ein Staat, der vorgibt, auf Reinheit des Sports zu achten, Teilhaber eines großen Konzerns – nämlich Telekom bzw. T-Mobile – ist, der einen Rennstall unterhält, der die Tour de France mitfährt, und ein anderer Teil desselben Staates, das öffentlich-rechtliche Fernsehen, darüber berichtet? Das Ganze kulminiert in der Person von Hagen Boßdorf von der ARD, der vom Staat bezahlt wird, der über einen anderen Teil des finanzierten Systems, das Radfahren, berichtet, und bei dem er auch noch privat, als Co-Autor von Jan Ullrichs Buch, finanziell beteiligt ist. Gibt’s mehr Korruptionskonstruktionen? Und die einzige Zeitung, die adäquat berichtet, ist ausgerechnet eine Mitveranstalter-Zeitung: L’Equipe. Da finden sie Seiten über Doping – groteskerweise. Der Radsport ist irreversibel korrumpiert.

Die Welt will offenbar betrogen werden? „Mundus vult decipi, ergo decipiatur“ steht ja schon im Buch „Doping“, das sie mit Ihrer Frau Brigitte Berendonk veröffentlichten.

Weil der Staat eine Sehnsucht hat, die Leute doofgläubig zu halten und ihnen nationale Erfolgsmärchen zu verkaufen! Meine Frau hat in ihrem Buch alles offen gelegt. Es war alles auf dem Tisch, zack, und hat zu über 20 Prozessen geführt.

Hieße das für uns Journalisten, dass wir uns bestimmte Sportarten rauspicken sollten, die unverdächtig sind, und nur noch darüber berichten?

Absolut! Sie müssten zum Beispiel sagen: Aus die Maus für den professionellen Radsport. Wer sich durch Doping einen Vorteil verschafft und gegen das Arzneimittelgesetz verstößt und Körperverletzung riskiert, ist kriminell. Das sagt übrigens auch der Bundesgerichtshof. Wer diesen Fakt bestreitet, müsste das Arzneimittelgesetz aufgeben, müsste den Paragrafen über Körperverletzung streichen. Rechtlich ist das in Deutschland klar, als Konsequenz der Prozesse, die meine Frau und ich erzwungen haben – gegen eine damals herrschende juristische Richtung in unserem Land.

Wie konnte ein einzelnes Ehepaar gegen eine solche Phalanx erfolgreich sein?

Ich bin Ostwestfale. Wir haben schon 9 nach Christus die Römer nicht durchgelassen.

Ganz aktuell beschäftigt Sie das Ansinnen von Ines Geipel, ihren Namen aus dem deutschen Vereinsrekord der 4-x-100-m-DDR-Staffel wegen Dopings löschen zu lassen. Warum exponiert sich derzeit nur Ines Geipel bezüglich der Dopingpraxis der DDR?

Weil alle anderen ehemaligen Sportler um ihre so genannte Lebensleistung fürchten. Die ehemalige 800-m-Läuferin Sigrun Grau-Wodars zum Beispiel ist Physiotherapeutin in Neubrandenburg. Aber der Höhepunkt ihres Lebens war 1988 in Seoul, damit identifiziert sie sich. Sie würde sich eher die Zunge abschneiden, als etwas zu sagen.

Marita Koch, die noch immer den Weltrekord über 400 Meter hält, behauptet, man habe die ihr zugeteilten Dopingdosierungen zwar entgegengenommen, aber nicht unbedingt geschluckt (siehe taz vom 6. 10.).

Das stimmt natürlich nicht. In den Trainingslagern mussten die Pillen vor den Augen der Trainer genommen werden. Außerdem wurde die Einnahme kontrolliert, weil ja immer wieder Urinproben entnommen wurden. Die Verantwortlichen wussten, wann eine Athletin positiv und wann sie nicht mehr positiv war, weil im Labor in Kreischa getestet wurde. Und ihr Trainer hat für sie ja noch zusätzlich bulgarisches Zeug besorgt.

Aber wie kann jemand so unverfroren lügen?

Das kann ich Ihnen sagen: Das kennzeichnet Kader. Der Kader-Mensch versucht in einem Gespräch immer herauszukriegen, was der andere weiß. Das wird er dann zugeben. Aber dann wird er sich wieder abschotten. Marita Koch hatte angekündigt, gegen meine Frau zu klagen, hat es dann aber doch gelassen, nachdem andere Sportler ihre Prozesse gegen uns reihenweise verloren hatten.

Trotzdem: Ist es nicht komisch, dass neben Ines Geipel sich derzeit niemand engagiert?

Es haben viel mehr gesprochen, als jemals in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Es wurden dann aber diese unterschriebenen Aussagen gezielt von außen reduziert. Beim Berliner Doping-Prozess sind von 144 Fällen nur die 20, die einen Rechtsanwalt als Vertreter hatten, übrig geblieben. Die anderen sind aus Gründen der „Prozessökonomie“, wie es so schön heißt, unerwähnt geblieben. Wir sind zunehmend in den letzten Jahrzehnten hier zu einer Vertuschungsrepublik geworden. Alle diese Akten sind in irgendwelchen Tresoren der Staatsanwaltschaft verschwunden. Sie stehen nur noch in der Anklageschrift. Man sollte grundsätzlich mehr zitieren dürfen. Wir haben alle unsere Dokumente als Stiftung der „Lyndon B. Johnson Library of Contemporary History“ der Universität in Austin, Texas, geschenkt. Dort ist alles zugänglich. Und in Bälde auch im Internet (www.lib.utexas.edu) abrufbar.

Im Fall Geipel hat der DLV jetzt eine Kommission zur Prüfung eingesetzt.

Darüber kann ich nur lachen. Die Dokumente kennt der DLV doch schon seit 1991.

Wie geht es weiter in diesem Fall?

Das ist eine große ironische Problematik. Marlies Göhr hat nach Aussage ihres Trainers vor der Staatsanwaltschaft auch Oral-Turanibol (anaboles Steroid, die berüchtigten blauen Pillen; d. Red.) genommen. Göhr hält immer noch den deutschen 100-m-Rekord, der muss dann auch weg sein. Der Fall Heike Drechsler – ist alles dokumentiert. Da kommt eins nach dem anderen, die Mehrzahl der deutschen Rekorde wird dann weg sein. Der Bundesgerichtshof hat gesagt: „Diese Rekorde sind die Frucht krimineller Tätigkeit.“ Und der DLV will als Vorbild für die Jugend Rekorde führen, die Ergebnisse krimineller Taten sind. Wo sind wir denn? Wir feiern kriminelle Taten. Es wird eine harte Diskussion kommen, auch durch die bevorstehenden Prozesse gegen Jenapharm. Ach, das ist eine einzige Satire.

Herr Franke, hatten Sie nicht neulich angekündigt, sich zurückzuziehen?

Das wird wohl nicht so schnell möglich sein. Sagen Sie mir, weshalb in diesem Land kein anderer Mediziner oder Wissenschaftler die Arbeit für die Opfer und für die Jugend macht?