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Archiv-Artikel

Die Kehrseite der EU

Jugoslawien sammelte in 70 Jahren viel Erfahrung im Umgang mit Nationalitäten und Minderheiten. Norbert Mappes-Niediek legt dar, warum Europa daraus viel lernen kann

Die Jugoslawienkriege der Neunzigerjahre wurden und werden im Westen Europas als Anachronismen wahrgenommen. Was die durchmachen, haben wir schon hinter uns, meinen die Westeuropäer. Der Journalist und Balkanexperte Nobert Mappes-Niediek ist in seinem neuen Buch „Die Ethno-Falle“ anderer Ansicht. Er hält die Konflikte, die den Balkanstaat zerstört haben, für hochmodern.

Seine These: Die Einigung der Nationalstaaten Westeuropas zur EU und der Zerfall Jugoslawiens sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Maastricht-Vertrag war für die Staaten im Osten- und Südosten des Kontinents ein klares Signal. Sie mussten sich von den Resten des Kommunismus befreien und so verändern, um in die EU zu kommen. In homogenen Nationalstaaten wie Polen, Ungarn oder Bulgarien führte das zu einer kollektiven Anstrengung von Staat, Wirtschaft und Bürgern. Vielvölkerstaaten mit großen regionalen Entwicklungsunterschieden wie die Sowjetunion oder Jugoslawien dagegen wurden von der Anziehungskraft des neuen, starken Magneten im Westen des Kontinents zerrissen.

Gerade weil Europa zusammenwuchs, fiel Jugoslawien auseinander, meint Nobert Mappes-Niediek. Dabei unterschlägt er nicht, dass der Balkanstaat lange vor der Gründung der EU seine eigenen Probleme hatte, wie etwa das starke Gefälle vom industrialisierten, reichen Slowenien im Norden zum agrarischen Armenhaus im Süden, dem Kosovo. Anfang der Neunziger beschlossen die herrschenden Eliten im Norden Jugoslawiens, sich von den südlichen Teilrepubliken zu trennen und ohne diesen Ballast Richtung EU zu steuern. Dass die Politiker in Slowenien und Kroatien ihren Schritt ethnisch, kulturell und religiös begründeten, war dabei keineswegs zwingend. Es war der vorherigen Entwicklung Jugoslawiens zum Ethno-Staat geschuldet.

Im sozialistischen Jugoslawien ersetzten die Rechte der Völker individuelle Bürgerrechte. Wer demnächst Bürgermeister, Theaterdirektor oder Universitätsprofessor werden wollte, musste nicht etwa Belege für seine fachliche Eignung vorlegen. Er musste glaubwürdig machen können, dass er eine der zahlreichen Völkerschaften oder ethnischen Minderheiten im Lande vertrat. Gab es auf dieser Ebene Auseinandersetzungen, so traten Präsident Tito und seine kommunistische Partei als über den Streitenden stehende Schiedsrichter auf.

Das klappte so lange, bis Tito 1980 starb und das Land in eine Wirtschaftskrise geriet. Nun begannen die Völkervertreter, sich um die kleiner werdenden Mittel zu streiten. Die Politmanager aus der kommunistischem Nomenklatura versuchten, das Land an runden Tischen zu regieren. Doch bald schon stellte sich heraus, dass in vielen Punkten kein Kompromiss mehr zwischen den Völkervertretern gefunden werden konnte: Je weniger es zu verteilen gab, desto fester verhakten sich die streitenden Parteien ineinander – bis sie 1991 begannen, aufeinander zu schießen.

Mappes-Niediek betont, dass der Westen nicht für die inneren Widersprüche und Baufehler Jugoslawiens verantwortlich gemacht werden kann. Aber er stellt auch klar: Die Probleme, an denen der Vielvölkerstaat gescheitert ist, sind den Europäern keineswegs fremd. Vielmehr steht die Frage, wie der Interessenausgleich zwischen Teilstaaten, Völkern, Minderheiten und unterschiedlichen Lebensbedingungen innerhalb eines Staates organisiert werden kann, heute in der EU ganz oben auf der Tagesordnung.

So bilden die Regierungen der 25 EU-Mitgliedstaaten bis heute in allen wesentlichen Fragen einen runden Tisch – genauso wie weiland die Führungen der Republiken Jugoslawiens. Die EU hat zwar eine Volkswirtschaft, aber in dieser gibt es sehr verschiedene regionale und nationale Identitäten. Ein europäisches Staatsvolk gibt es genauso wenig, wie es ein jugoslawisches gab. Stichworte wie Kopftuchstreit, Frauenrechte, Schaf-Schächten oder Moscheenbau zeigen, wie heftig Europa Minderheitenrechte diskutiert.

Mappes-Niediek belegt in „Die Ethno-Falle“, dass es nicht der Radikalismus der Nationalisten war, der Jugoslawien zerstört hat, sondern die Dynamik des perfekten zwischenethnischen Ausgleichs. Er warnt angesichts der jugoslawischen Geschichte zu Recht davor, dass der Staat kulturell-ethnisch-religiösen Faktoren allzu große Aufmerksamkeit schenkt. Den Minderheiten Rechte zu gewähren ist besser, als sie zu unterdrücken. Noch besser aber sind Verhältnisse, in denen Menschen gar nicht erst als Exemplare einer bestimmten Ethnie oder Religion angesehen werden. Die EU kann hier von den Erfahrungen des Balkans viel lernen. RÜDIGER ROSSIG

Norbert Mappes-Niediek: „Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann“. Links Verlag, Berlin 2005, 220 S., 14,90 €