: Die Volkswirtschaft bleibt gespalten
Exporte super, Binnennachfrage kränkelnd: So einig sich Konjunkturforscher bei der Analyse der deutschen Wirtschaft sind, so zerstritten sind sie bei ihren Empfehlungen. Die Unternehmer fordern mehr Sozialabbau, die Gewerkschaftsseite höhere Löhne
VON TARIK AHMIA
Die deutsche Konjunktur ist auf einem Kurs der sachten Erholung. Darin sind sich Experten unterschiedlicher Lager einig. Der eine, Axel Nitschke, Chefvolkswirt beim Deutschen Industrie und Handelskammertag (DIHK), stellte gestern die Herbstumfrage seines Verbandes zur Konjunkturentwicklung vor. Trotz Ölpreisschock rechnet der DIHK für 2006 mit einem Wirtschaftswachstum von „bis zu 1,5 Prozent“. Auch der Leiter des gewerkschaftsnahen Institutes für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Gustav Horn, ist vorsichtig optimistisch. „Wir gehen für 2006 von 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum aus“, sagte Horn bei der ebenfalls gestern vorgestellten IMK-Prognose.
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird sich dadurch aber nicht grundlegend verbessern, konstatieren beide Gutachter. Für 2006 erwartet das IMK einen leichten Rückgang der Arbeitslosenzahlen von 11,1 auf 10,6 Prozent – das entspricht etwa 200.000 Jobs.
Konjunkturmotor bleibt auch 2006 die Exportwirtschaft. „Der Export wird 2006 fühlbar zulegen“, sagte DIHK-Volkswirt Nitschke angesichts einer weiter solide wachsende Weltwirtschaft. Allerdings werden sich die glänzenden Erfolge der höchst wettbewerbsfähigen Exportwirtschaft nach wie vor kaum auf den Binnenmarkt auswirken, so Nitschke.
Damit endet aber auch schon die Einigkeit der Konjunkturexperten. Große Differenzen gibt es bei der Einschätzung über Ursachen und Lösungen für die inländischen Wirtschaftsprobleme.
„Der zentrale Schwachpunkt der deutschen Wirtschaftsentwicklung bleibt die schleppende Binnennachfrage“, sagte Gustav Horn vom IMK. Geringe Lohnzuwächse und hohe Energiekosten würden auch in diesem Jahr zum vierten Mal in Folge die Realeinkommen sinken lassen: „Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Konsumentwicklung so gedrückt“, so Horn. Er rät, die Binnennachfrage durch eine Aufstockung der öffentlichen Investitionen neue Impulse zu geben. Lohnerhöhungen bis zu 3,5 Prozent würden sich positiv auf die Konjunktur auswirken, so der Forscher. Auf europäischer Ebene fordert Horn, die Investitionsbedingungen durch eine Zinssenkung der Europäischen Zentralbank zu verbessern.
Dagegen ist für Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer beim DIHK, die Arbeitslosigkeit nur durch mehr Flexibilität der Beschäftigten und verbesserte Bedingungen für die Unternehmen lösbar. Er setzt auf Sozialabbau und mehr Eigenverantwortung. „Fünf Millionen Arbeitslose saugen die öffentlichen Kassen leer. Für Lohnerhöhungen und höhere Staatsausgaben gibt es keinen Spielraum“, sagte Wansleben in bewährter Unternehmer-Rhetorik: „Wir sind krank, da müssen wir bittere Pillen nehmen. Aber am Ende geht es uns besser.“ Das Gleiche also wie bisher, nur in höherer Dosis: Lockerung des Kündigungsschutzes, noch eine Steuerreform und die weitere Senkung der Sozialleistungen sind Wanslebens Kernforderungen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Für Gustav Horn ist das die falsche Medizin. Erholungschancen sieht er nur bei einem grundlegenden Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. „Höhere öffentliche Investitionen bewirken den stärksten Wachstumseffekt“, so Horn. Insbesondere für die Bildung und auf kommunaler Ebene forderte er mehr Geld. „Das ist auch mit einer maßvollen Haushaltskonsolidierung vereinbar, unter der die Konjunktur weniger leiden würde als bisher.“ Für Steuersenkungen sieht Horn keinen Spielraum. Stattdessen empfiehlt er Schlupflöcher in der Sozialversicherung zu schließen, um dort die Einnahmen zu verbessern.