: Blinde Flecken der Erinnerung
Alles Leben ist durchdrungen von der Logik der Sklaverei und dem damit einhergehenden Rassismus der Hautfarbe: Edward P. Jones erzählt in seinem preisgekrönten Roman „Die bekannte Welt“ von Schwarzen, die sich von ihren weißen Besitzern freikaufen konnten – und danach selber Sklaven hielten
von HARALD FRICKE
Eine „Stamford and Delphie Crow Blueberry Street“ gibt es in Richmond, Virginia, nicht. Auch der Sheriff John Skiffington, der durch seine kluge und besonnene Art der Stadt zu einer langjährigen Periode „des Friedens und Wohlstands“ verholfen haben soll, fehlt in den Geschichtsbüchern. Und die Volkszählung, nach der 1860 im gesamten Manchester County 2.670 Sklaven lebten? Ist eine Erfindung. „Die bekannte Welt“, die Edward P. Jones schildert, hat so niemals existiert.
Mit Zahlen, Daten, Fakten wäre das Drama, das im Zentrum von Jones' Roman steht, ohnehin nicht zu erklären. In der Zeit kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs hat es Schwarze gegeben, die sich von ihren weißen Besitzern freikaufen konnten – und danach selber Sklaven hielten. Bislang wurde der Umstand in der US-Geschichtsschreibung kaum behandelt; dass Jones diese Historia incognita trotzdem zum Sprechen bringt, dass er einige Dutzend fiktiver Einzelschicksale zur Wirklichkeit einer Epoche werden lässt, hat dem 1951 geborenen afroamerikanischen Autor im letzten Jahr den Pulitzerpreis für Literatur eingebracht.
Vielleicht liegt sein großes Talent gerade darin, die blinden Flecken der Erinnerung sichtbar zu machen, ohne gleich die ganze Zeitspanne mit wissenschaftlicher Akribie aufzudecken. Für diese Unschärfe des künstlerischen Blicks gibt es bei Jones zumindest ein tatsächlich reales Vorbild: den Holzstich des deutschen Kartografen Martin Waldseemüller aus dem frühen 16. Jahrhundert. Dessen seltsam verzerrte, an den Rändern mit viel Weißraum versehene Landkarte, auf der erstmals Amerika namentlich auftauchte, hängt im Büro des Sheriffs, und sie trägt eben jenen Titel: „Die bekannte Welt“. Auch bei Jones bleiben historische Zusammenhänge oft skizzenhaft im Hintergrund, von dem sich die soziale Tragik umso klarer abhebt. Im Stil einer Familiensaga erfährt man, dass Augustus Townsend dank seiner Fertigkeiten als Schreiner genügend Geld verdiente, um sich selbst, dann seine Frau Mildred und später seinen Sohn Henry vom Plantagenbesitzer William Robbins freizukaufen. Henry ist das Denken seines langjährigen weißen Herrn jedoch dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass er nichts Unrechtes darin erkennen kann, wenn Menschen das Eigentum anderer Menschen sind.
Dies ist die Grundregel aller Sklaverei, das unhintergehbare Gesetz der Südstaaten, aus dem sich bei Jones sämtliche Abhängigkeiten herleiten. Folglich wird Henry mit Moses seinen ersten Sklaven ausgerechnet von Robbins kaufen und später über mehr als dreißig schwarze Leibeigene verfügen. Als er stirbt, droht sein Wohlstand zu zerfallen: Einige der Sklaven fliehen, seine Ehefrau Caledonia verliert das ihr vererbte „Eigentum“. Moses wittert seine Chance und beginnt eine Liebesaffäre mit der jungen Witwe, um an ihrer Seite selber die Freiheit zu erlangen. Doch die Beziehung ist chancenlos, und als er flieht, wird er von weißen Milizen eingefangen, die ihm zur Strafe die Fußsehnen zerschneiden.
Das klingt nach Breitwandepos, nach „Vom Winde verweht“, afroamerikanisch gewendet. Gleichwohl ist Jones nicht der Sentimentalität des Grand Old South erlegen, im Gegenteil. Die Verzweiflung der wie Vieh auf den Ackern schuftenden Sklaven, die „Weltblödheit“, mit der etwa Moses sich über Jahre den Befehlen seines Herrn stumm unterordnet, für all diese Entbehrungen und Demütigungen hat er einen Tonfall gefunden, der in seinem spröden Realismus zur Enge der Verhältnisse passt. Der Vergleich mit William Faulkner liegt nahe, aber Jones mag nicht bloß die langen Strecken der dichten Beschreibung, sondern auch den Jazz der Improvisation. Dann schweift er ab, holt plötzlich merkwürdige Begebenheiten hervor, die wie Ghost Stories durch den Roman spuken. Moses, der am Geschmack der Erde die kommende Ernte voraussagen kann. Oder die irre gewordene Alice, die unentwegt tanzt und dabei dem Tod einen Blues singt. Überall lauert der evil spirit.
Manchmal reicht Jones aber auch ein knapper Nebensatz, ein Detail im Gang oder wie jemand beim Sprechen verlegen zu Boden blickt, um die Macht der Hierarchien als tägliche Normalität zu zeigen. Beim Lesen wird einem quälend bewusst, dass es weder Widerspruch noch Abweichungen geben kann: Alles Leben ist durchdrungen von der Logik der Sklaverei und dem damit einhergehenden Rassismus der Hautfarbe. Da ist die Lehrerin Fern Elston, deren Vorfahren seit Generationen möglichst hellhäutige Schwarze geheiratet haben, damit der äußere Unterschied zur weißen Gesellschaft irgendwann verschwunden sein wird. Obwohl auch sie ihre Kinder auf dieses Ziel hin erzieht, weiß Fern aus eigener Erfahrung, dass der Wille zur Angleichung niemals echte Egalität bringt, sondern den Zwang zur Konformität nur stärker markiert.
In solchen Momenten merkt man, dass sich Jones bei all seinem Vertrauen in die Fiktion doch auch mit Post-Colonial-Studies oder der Theorie eines Frantz Fanon auseinander gesetzt hat. Selten jedenfalls sind in einem Roman eindrücklicher die Wurzeln für schwarzen Selbsthass dargelegt worden. Schlimmer noch kommt es für Henry, der auch nachdem sein Vater ihn freigekauft hat, nicht versteht, was Freiheit bedeutet. Blind übernimmt er von seinem ehemaligen Besitzer Robbins dessen Definition: „Du bist der Herr, mehr will das Gesetz nicht wissen“ – und macht sich so zum Komplizen der herrschenden Ordnung. Dass Jones ihn wie überhaupt jede andere Figur dennoch voller Zuneigung zeichnet, zeugt von seinem Gespür für Brechungen: „Die bekannte Welt“ wird von Menschen bevölkert, nicht von Stereotypen.
Edward P. Jones: „Die bekannte Welt“. Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, 448 Seiten, 22 €