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Archiv-Artikel

Alle Farben grau

Über die allmähliche Auflösung der Individualität in einer grenzenlos weißen Unbestimmtheit: Marion Poschmanns „Schwarzweißroman“

Schwarz und Weiß sind auch Chiffren für die Seelenzustände der Figuren

VON ANNE KRAUME

Auf der Sowjetunionkarte in dem alten Schulatlas ist der kleine weiße Kreis beinahe nicht zu erkennen, der die Stadt Magnitogorsk am Ural bezeichnet – die große blaue Raute, die für die dort angesiedelte Eisen- und Stahlerzeugung steht, verdeckt die Stadt selbst fast ganz. Wie in dem alten Atlas hat sich Magnitogorsk in Marion Poschmanns „Schwarzweißroman“ seit den Sowjetzeiten wenig verändert: Der Industriekoloss an der Grenze zwischen Europa und Asien ist in der Stalinzeit aus dem Boden gestampft worden und hat die Wende überlebt; noch immer beherrscht das große Stahlwerk die Stadt, die Poschmanns deutsche Ich-Erzählerin Mitte der Neunzigerjahre bereist.

Die namenlose junge Frau besucht dort ihren Vater, der für einige Zeit mit einer Gruppe deutscher Ingenieure im Stahlwerk arbeitet. Dass die Reise eine kleine Flucht vor dem Leben zu Hause ist, deutet die Erzählerin nur an – in Deutschland zerfasert ihre Zeit in der biografischen Leere zwischen Studium und Beruf, eine Dissertation muss geschrieben werden, und allmählich wird das Geld knapp.

Hier im russischen Winter aber, in der kommunistischen Utopie der Reißbrettstadt Magnitogorsk, kann aus der Leere und der Monotonie der Tage künstlerisch Profit geschlagen werden – der „Schwarzweißroman“ ist das Ergebnis davon. Wenn Marion Poschmann deshalb diesem Roman, ihrem zweiten nach „Baden bei Gewitter“ (2002), eine Textpassage des russischen Avantgardekünstlers El Lissitzky voranstellt, in der dieser auf der einen Seite Individualismus mit Farbe in Verbindung bringt und auf der anderen die Kraft des Kollektivismus mit den extremen Nichtfarben Schwarz und Weiß, dann zeichnet sich darin bereits das Romanprogramm ab: Nicht um verallgemeinernde Schwarzweißmalerei geht es, wohl aber um die allmähliche Auflösung der Individualität in einem Raum, der zwar präzise geschildert werden kann, dessen dunkle Ränder sich aber immer wieder in eine grenzenlos weiße Unbestimmtheit öffnen. El Lissitzky und die Avantgarde um Kasimir Malewitsch hatten in der Anfangszeit des Sowjetstaates versucht, mit ihren konstruktivistischen Bildern eine künstlerische Entsprechung zum technischen Zeitalter mit seinem Kollektivismus zu schaffen.

Poschmanns Roman entwirft ein Bild aus der Zeit nach dem Ende des Sowjetstaates, das diesen Gedanken zwar aufgreift – aber unter deutlich veränderten Vorzeichen. So erlebt die Erzählerin in einem Albtraum Malewitschs Bild vom schwarzen Quadrat auf weißem Grund als Grundmuster eines Gefängnisses aus schwarzen und weißen Fliesen, das sich um sie herum schließt und in dem sie versinkt.

Tatsächlich sind beinahe alle anderen Farben aus dem Roman getilgt. Die Protagonistin schreitet zwar in einem leuchtend roten Mantel durch die russische Schneelandschaft, aber dieser westliche Mantel bleibt der einzige Farbtupfer in dem alle Nuancen verwischenden Weiß des Winters am Ural, in dem sich nur die schwarzen Konturen des Stahlwerks vor dem grauen Himmel abzeichnen. Gleich zu Beginn taucht die Erzählerin auf der Reise nach Osten im formlosen Schwarz des Flugzeugbauchs unter, um am Ende in der verbotenen Zone rund um ein Kernkraftwerk im durchsichtigen Weiß der Schneelandschaft zu verschwinden.

In diesem Raum aus Schwarz und Weiß, dessen Bedrohlichkeit Poschmann mit dem Albtraum von Malewitschs Quadraten vorwegnimmt, werden die Beziehungen der Menschen untereinander brüchig und nicht selten gewalttätig. Die deutschen Ingenieure und Techniker warten auf Material, das sie zum Fortsetzen ihrer Arbeit benötigen, das aber niemals eintrifft. Auf die Monotonie der erzwungenen Untätigkeit reagieren alle unterschiedlich und dennoch erwartbar. Der eine kann das Alleinsein nicht ertragen und hält sich eine russische Geliebte; der andere bleibt nach außen gelassen und verschwindet dann doch von der Bildfläche, der Dritte taucht regelmäßig in die Halbwelt der Prostituierten und Zuhälter ab.

Immer wieder jedoch brechen in die russische Gegenwart Bilder aus der Vergangenheit ein, die für die 1969 geborene Marion Poschmann und für ihre etwa gleichaltrige Ich-Erzählerin auch nur schwarzweiß sein können: Bilder und Erinnerungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Krupp mit dem russischen Stahl Geschäfte machte, als die Deutschen versuchten, Russland zu unterwerfen, und als der Großvater der Erzählerin dort in der Weite des Landes verschwand. Die Generation danach ist mit den Folgen des Krieges aufgewachsen – der Vater der Erzählerin und die anderen deutschen Ingenieure in Magnitogorsk leben mit ihren Erinnerungen an in Russland vermisste Väter oder von den Russen vergewaltigte Mütter. Und eine weitere Generation später steht dieses Trauma wie ein Block zwischen dem Vater und seiner Tochter – ein Block, dem man nicht aus dem Weg gehen kann und den man trotzdem unberührt lässt.

Immer wieder werden Schwarz und Weiß bei Marion Poschmann deshalb auch zur Chiffre für die Seelenzustände ihrer Protagonisten– und diese Seelenzustände lassen sich nicht zuletzt am besten in der Beschreibung von Landschaft, Raum oder Natur darstellen. „Der Wald hatte seine Schwingen angelegt und wartete. Blaue Schatten huschten durch die Schlucht, Phantome, die ein fühlloses und farbloses Leben führten, auf dem Schneefeld stöberten. Ich stieß mich ab und folgte der Spur. Dick eingeseifte, aufgeschäumte Welt. Tonnenweise Reinigungsmittel auf Fauna und Flora ausgekippt, die schwarz gewordenen Fichten, die verdorrten Farne, die Pilze und Flechten gründlich zu schrubben.“

Poschmann hat bislang durch ihre Gedichtbände „Verschlossene Kammern“ (2002) und „Grund zu Schafen“ (2004) von sich reden gemacht. Gerade auch mit den lyrischen Passagen ihres Romans gelingt es ihr nun, das Schwarz und das Weiß unserer Welt neu auszuleuchten.

Marion Poschmann: „Schwarzweißroman“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2005, 500 Seiten, 24,90 €