: Ursachenforschung in der Union
Merkel kann Debatte über Wahlpleite nicht mehr verhindern. Kritik von Sozial- und Landespolitikern. Bundestagspräsident Lammert möchte wieder über Leitkultur reden
BERLIN taz ■ In der Union ist eine Debatte über die Gründe für das eigene, unerwartet schlechte Wahlergebnis ausgebrochen. Mehrere CDU-Politiker führten das enttäuschende Abschneiden darauf zurück, dass die Union den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit vernachlässigt habe. Außerdem wurde gefordert, dass die Partei wieder eine klare Werteorientierung bieten müsse.
CDU-Chefin Angela Merkel hatte darum gebeten, mit öffentlichen Analysen zu warten, bis die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind und „eine valide Datenbasis“ vorliegt. Doch nachdem die Regierungsposten verteilt wurden, ist es auch mit der Disziplin tvorbei. Vor allem vier Gruppen mucken auf:
Die Nordrhein-Westfalen in der CDU sind sauer, weil sie keinen Minister stellen. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sprach von einer „Düpierung“. Im Gegenzug kritisierte er Merkel, indem er auf seinen eigenen Erfolg bei der Landtagswahl im Mai hinwies: „Wir haben darauf geachtet, dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit zusammenbleiben.“ Merkel also nicht. Damit seine soziale „Handschrift“ künftig auch in der Bundespolitik deutlich werde, ließ Rüttgers nun sogar ausrichten, er werde mit den drei SPD-Ministern aus Nordrhein-Westfalen „über Bande spielen“.
Die Junge Union will auf ihrem „Deutschlandtag“ am kommenden Wochenende über die Ursachen für die Wahlpleite reden. Ausführlich. Schonungslos.
Die nächsten Wahlkämpfer verlieren jetzt schon die Geduld. Christoph Böhr, der im März als Spitzenkandidat in Rheinland-Pfalz antritt, beklagte gestern, dass die Union den Eindruck erwecke, als wollte sie nur den Unternehmen Gutes zu tun. Das Maß aller Dinge müssten aber „die Menschen“ seien. Böhrs erste konkrete Konsequenz: Auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer sollte verzichtet werden. Die „eigentliche Ursache“ für die Misere sei aber, dass es der Union „immer weniger gelingt, unsere Anhänger und Wähler hinter einem gesellschaftspolitischen Leitbild zu versammeln“. Passend dazu regte der neue Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) an, mal wieder über die Leitkultur zu sprechen. Dies wäre „unter dem Gesichtspunkt einer Beleuchtung der geistigen Verfassung der Nation“ spannend, sagte Lammert der Zeit.
Spannend ist auch die Haltung der Arbeitnehmer-Vertreter in der Union. Deren Vorsitzender Karl-Josef Laumann stellt jetzt fest, die Union sei „in vielen Regionen Deutschlands keine Volkspartei mehr“, weil sie ihre christlich-sozialen Wurzeln „ausradiert“ habe. Vor der Wahl war Laumann noch mit fast allen Parteibeschlüssen einverstanden. „Der Entwurf wahrt den Charakter der CDU als sozialer Volkspartei“, lobte Laumann, als die Parteispitze vor einem Jahr ihr Konzept zum Abbau des Kündigungsschutzes präsentierte. Auch das Unionsprogramm für die Gesundheitspolitik samt Einführung einer Kopfpauschale begrüßte er ausdrücklich: „Da haben wir nun ein klares Konzept mit klaren Botschaften vorzuweisen: Arbeit wird billiger.“ Kritik auch. LUKAS WALLRAFF