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Überlebende Musik

Porträt Verschollene Musik jüdischer Komponisten aufzuspüren ist ein Lebensthema von Mimi Sheffer. Am kommenden Sonntag gibt die Sopranistin ein Konzert in der Synagoge in der Pestalozzistraße

von Esther Slevogt

Ihre Konzerte sind etwas Besonderes. Nicht nur, weil sie oft an besonderen Orten stattfinden, in alten brandenburgischen Dorfkirchen zum Beispiel, sondern auch ihres Programms wegen: vergessene jüdische liturgische Musik vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Deren Wiederentdeckung und ­-aufführung betreibt die ausgebildete Sopranistin und Synagogenkantorin Mimi Sheffer mit ebenso großer Sachkenntnis wie mit großer Stimme. Wer einmal gehört hat, wie ihr warmer, emotionaler und von großer musikalischer Präzision gekennzeichneter Sopran in die Tiefe dieser Gebete dringt und sie einem Publikum erschließt, der wird das so schnell nicht vergessen.

Musik voller Geschichten

„Musik ist eine eigene Sprache“, sagt sie im Gespräch, „sie besteht aus vielen Schichten und Geschichten, quer durch die Zeit. Wenn es gelingt, das hörbar zu machen, dann kann jeder Zuhörer in den Tönen auch ein Echo seines eigenen Lebens finden.“ In der Regel singt sie von einer Orgel begleitet oder im Dialog mit einem Chor – denn oft sind die liturgischen Gesänge dialoghaft strukturiert und als Wechselgesang zwischen Vorbeter und Gemeinde komponiert.

Es begann vor etwa zehn Jahren: Damals drückte ihr jemand drei Partiturblätter mit Kompositionen von David Eisenstadt in die Hand, stimmlich anspruchsvolle Musik und mit ihren Melismen und chromatischen Sprüngen schwer zu singen, wie sie sagt, zumal es keine Instrumentalbegleitung gibt.

Eisenstadt war Komponist und Chorleiter in Warschaus Großer Synagoge, bis er mit seiner Familie ins Warschauer Getto gesperrt wurde. Er gilt als einer der bedeutendsten Komponisten jüdisch-geistlicher Musik im Polen der Zwischenkriegszeit. 1942 wurde er in Treblinka ermordet, ein Großteil seines Werks ist verschollen.

Zwei seiner Kompositionen sind unter anderem in der Anthologie überliefert, die der polnische Komponist (und Ehemann der Dichterin Mascha Kaléko) Chemjo Vinaver 1955 herausgab. In ihr dokumentierte er, was von der untergegangen jüdischen Musikkultur Polens nach 1945 noch zu finden und zu bewahren war. Diese verschollene Musik aufzuspüren und aufzuführen wurde auch ein Lebensthema für Mimi Sheffer, das sie auch mit dem Verein Kol (hebräisch: Stimme) verfolgt.

Sie spricht von „überlebender Musik“, weil ihr wichtig ist, die Komponisten nicht als Opfer ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, sondern ihnen und ihrer Musik zu der Stellung in der europäischen Kultur zurückzuverhelfen, die ihnen schon der Qualität ihrer Werke wegen zusteht und um die sie von den gewalttätigen Zeitverläufen des 20. Jahrhunderts betrogen wurden: Weil sie ermordet wurden, emigrierten oder sich von der Tradition abwandten, die aufgrund ihrer Schändung durch die Nationalsozialisten unerträglich geworden war.

2011 erschien Mimi Sheffers bemerkenswertes Album „Ode to David Eisenstadt“, das drei Kompositionen von Eisenstadt enthält, aber auch geistliche Musik anderer Komponisten. Darunter ist ein jazziger Segen von Kurt Weill, der 1900 als Sohn des Dessauer Synagogenkantors Albert Weill geboren wurde. Oder frühe Gebete von Paul Ben Haim, der unter dem Namen Paul Frankenburger Operndirektor in Augsburg war, bis er dort 1931 das Opfer früher antisemitischer Säuberungen wurde und nach Palästina auswanderte.

„Es ist hier eine ganze Kultur untergegangen, eine Entwicklung gewaltsam unterbrochen worden“, sagt Mimi Sheffer. Zwischen den Weltkriegen hatte die Neue Musik auch die Synagogalmusik zu beeinflussen begonnen. Nicht nur die Liturgie des liberalen Judentums, wo bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Orgel und Instrumente in den Gottesdienst Einzug gehalten hatten, sondern auch den orthodoxen Ritus, der (nach der orthodoxen Lesart der Religionsgesetze) nur Männerchöre ohne Instrumentalbegleitung erlaubt. So hatte die Warschauer Große Synagoge, für die viele von Eisenstadts Kompositionen entstanden, einen hundertstimmigen Chor aus achtzig Knaben- und zwanzig Erwachsenenstimmen.

„Es ist hier eine ganze Kultur untergegangen“

Mimi Sheffer

In New York ausgebildet

Auch Mimi Sheffer stammt aus einer Familie mit osteuropäischem Hintergrund und ursprünglich orthodoxer Tradition. Im kalifornischen Davis geboren, wo ihr Vater an der University of California studierte, wuchs sie in Israel auf, wo der Vater, der Wissenschaftler Aharon-Yosef Gilboa, 1965 als Biophysiker einen Ruf des berühmten Weizman-Instituts in Rechowot angenommen hatte. In Jerusalem absolvierte sie zunächst ein klassisches Gesangsstudium, bevor sie in New York zur Kantorin ausgebildet wurde und in den USA auch ihre erste Stelle antrat. Seit 1994 lebt sie mit ihrer Familie in Berlin. Lange hat sie selbst Kantorinnen und Kantoren ausgebildet, in Berlin und zuletzt auch in Warschau.

Das vierte Konzert dieser Saison findet am 17. April kurz vor dem jüdischen Pessachfest in der liberalen Synagoge Pestalozzistraße statt. Pessach erinnert an den Auszug aus Ägypten, der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei. „Cherut heißt Freiheit“ ist das Konzert überschrieben, und Mimi Sheffer präsentiert liturgische Musik zu diesem jüdischen Fest, darunter auch eine erst kürzlich wiederentdeckte Kantate von David Eisenstadt, eine neue Vertonung des uralten Liedes „Chad Gadya“, das die Pessach-Haggadah beschließt, die am ersten Abend von Pessach vorgelesen wird.

Wieder hat Mimi Sheffer für dieses Konzert einen besonderen Ort ausgewählt: die Synagoge Pestalozzistraße, im vergangenen Jahr restauriert und in ihrem Originalzustand von 1912 wiedereröffnet. Diese Synagoge mit ihrer sternübersäten matisse-blauen Kuppel ist der Pflege jüdischer Liturgie besonders verpflichtet und bewahrt mit ihrem durchkomponierten Gottesdienst als eine der wenigen Synagogen dieser Welt das liturgische Erbe des deutschen liberalen Judentums.

Mimi Sheffer: 4. Saisonkonzert 2016: „Cherut heißt Freiheit“, 17. April, 17 Uhr, Synagoge PestalozzistraßeAlle Informationen: www.kol-juedischemusik.com

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