Offener Tisch Eine Kindheit in einer Diktatur kann glücklich sein. Heidi Hermann hat in ihr Wohnzimmer eingeladen, um bei Schnaps und Sarmale davon zu erzählen
: Ceaușescus Krautwickel

„Bitte bringen Sie Ihre Hausschuhe mit“ – unser Autor (Dritter von rechts) bei seinem Besuch im rumänischen Wohnzimmer Foto: privat

Von Philipp Mausshardt

Der Titel im Programmheft der Reutlinger Volkshochschule hatte mich neugierig gemacht: „Wohnzimmer-Weltreise“. Es klang ein wenig nach der Fernsehsendung „Menschen, Länder, Abenteuer“, die ich noch aus der Sofaperspektive meiner Eltern kannte. Man saß, knabberte Salzbrezeln und reiste nur im Kopf.

Die Wohnzimmer-Weltreisen, las ich im Programmheft, seien eine Erfindung aus Rheda-Wiedenbrück. Migranten laden in ihre Wohnung ein und erzählen von zu Hause. Eine schöne Idee, vor allem wenn man in Rheda-Wiedenbrück leben muss. Seither hat sich die Idee in halb Deutschland ausgebreitet: Mehr als 200 „Weltreisen“ haben schon stattgefunden, berichtet die Erfinderin Catrin Geldmacher. Auch in Herzebrock-Clarholz und in Rietberg-Mastholte.

Meine Reise in Reutlingen sollte nach Rumänien gehen. Ich mag Rumänien. Darum bezahlte ich gern die Gebühr von 10 Euro und erhielt kurz darauf die Nachricht: „Am Freitag, von 18 bis 21 Uhr, reisen Sie nach Rumänien zu Frau Heidi Hermann in die Bismarckstraße.“ Es sei angebracht, „wenn Sie Ihre Straßenschuhe an der Wohnungstür ausziehen und sich Hausschuhe mitbringen, damit Sie keine kalten Füße bekommen“. Es würde ein „landestypischer Imbiss“ gereicht.

Schnaps zum Frühstück

Ich war schon mehrmals in Rumänien. Es hat mir so gut gefallen, dass ich vor einem halben Jahr einen Rumänisch-Sprachkurs an der Volkshochschule besucht habe. Ich kann jetzt fehlerfrei sagen: Bitte grüßen Sie Ihre Eltern von mir (Vă rog să transmiteți salutări părinților dumneavostră din partea mea).

Nach Rumänien reise ich deshalb so gern, weil ich mir dann besser vorstellen kann, wie meine Urgroßeltern gelebt haben. Dort fahren Menschen noch mit dem Pferdewagen und trinken zum Frühstück Schnaps.

Einen sauer eingelegten Krautkopf (gibt’s beim Türken)

1,5 Liter Hühnerbrühe

500 Gramm gemischtes Hackfleisch

300 Gramm geräucherter Bauchspeck

2 Zwiebeln

Salz, Pfeffer, 3 Lorbeerblätter (fein gehackt)

110 Gramm Reis

100 Gramm Tomatenmark

200 Gramm saure SahneDen Bauchspeck und die Zwiebel sehr klein würfeln und zusammen mit dem Hackfleisch, dem Reis, den Gewürzen mischen. Mit Zugabe von etwas Hühnerbrühe die Füllung zu einer weichen Masse kneten. Etwa 16 Kohlblätter vom Strunk entfernen. Den Strunk herausschneiden und wegwerfen, die verbliebenen Blätter klein schneiden. Den Boden eines großen Kochtopfs mit einem Teil des geschnittenen Krauts auslegen. Aus jeweils zwei Kohlblättern die Krautwickel formen und darauf achten, dass sie von allen Seiten gut verschlossen sind. Dabei die Wickel so locker füllen, dass der darin enthaltene Reis noch quellen kann. Wie in einer Schneckenform die Wickel auf das Krautbett legen, mit dem restlichen Kraut bedecken und mit der Hühnerbrühe auffüllen. Aufkochen lassen und bei geschlossenem Deckel zwei Stunden simmern lassen. Dazu passen saure Sahne, Polenta und Schnaps.

Vor dem Haus in der Bismarckstraße wartete schon die Gastgeberin. Sie sei gerade erst frisch in die Wohnung eingezogen, sagte sie. Deshalb solle man sich nicht an den noch herumstehenden Kisten stören. Auch das Parkett sei neu verlegt. „Bitte passen Sie auf, wohin Sie treten.“ Wir waren zu neunt. Unter den Weltreisenden erkannte ich Peter aus dem Rumänisch-Sprachkurs wieder.

Heidi Hermann schien etwas aufgeregt, sie hatte noch nie eine Weltreise in ihrem Wohnzimmer veranstaltet. Bis zu ihrem 14. Lebensjahr hat sie in Rumänien gelebt, erzählte sie. Dann, nach dem Sturz der Regierung, ist sie zusammen mit ihren Eltern ausgereist.

Unsere Reisegruppe fremdelte am Anfang noch. Erst als Heidi Hermann vorschlug, uns doch besser zu duzen, wich die Befangenheit ein wenig. Sie setzte sich auf die Armlehne des Sofas und sprach über das Essen. Aus der Küche wehte ein Duft von Kraut herein.

Ihre Mutter habe die Sarmale gemacht, Krautwickel, „so wie früher“. Sie hatten zwei Stunden lang in einer Hühnerbrühe gegart. Wir schöpften uns die Sarmale auf Plastikteller, weil das Geschirr noch in Kisten verstaut war, und versuchten, die Sauce nicht auf das frisch verlegte Parkett tropfen zu lassen.

Heidi Hermann wuchs in einer Kleinstadt bei Sibiu auf, während die Lebensmittel knapp waren und Ceaușescu mit einer alles überwachenden Geheimpolizei die politische Opposition ausschalten ließ. „Meine Eltern waren beide taub und als Fabrikarbeiter im kommunistischen System durchaus zufrieden.“ Während wir Gäste versuchten, die Teller gerade zu halten, erzählte sie von ihrer Kindheit. „Ich war viel draußen, wir spielten in den Gärten, und jede Haustür stand Tag und Nacht offen. Es gab ja kein Telefon. Wer seine Freunde besuchen wollte, ging einfach hin.“

Heidi Hermann Foto: Patrick Bauer

Die Gastgeberin hatte sogar einen passablen rumänischen Rotwein aufgetrieben und ein paar Dosenbier der Marke Bere Timișoreana. Ebenso einen ordentlichen Pflaumenschnaps.

Je mehr ich vom Pflaumenschnaps probierte und je mehr Heidi Hermann erzählte, desto besser verstand ich, dass man auch in einer Diktatur eine glückliche Kindheit haben kann. Peter, der Mann aus dem Sprachkurs, der die Reise gebucht hatte, weil seine neue Schwiegertochter aus Rumänien stammt, fand das ebenfalls „sehr eindrucksvoll, was du uns hier erzählst“.

Irgendwann gab die Frau von der Volkshochschule ein Zeichen, dass die Weltreise nun zu Ende sei. Ein junger Mann wollte noch nicht gehen und fragte, ob er noch auf so ein leckeres Bere Timișoreana bleiben dürfe. Er durfte.

Die Essecke: Philipp Maußhardt schreibt auf dieser Seite jeden Monat über das Essen in großen Runden. Außerdem im Wechsel: Jörn Kabisch befragt Praktiker des Kochens. Waltraud Schwab macht aus Müll schöne Dinge, und unsere Autoren treffen sich mit Flüchtlingen zum gemeinsamen Kochen