piwik no script img

Archiv-Artikel

Robin Alexander über Schicksal Matt in hundertzwanzig Zeilen

Schach ist mehr als ein Spiel. Schach kann Leben retten

e2-e4

Schach habe ich nicht von meinem Vater gelernt. Zwar zeigte er mir als Kind, wie die Figuren aufgestellt und bewegt werden, was ein Matt ist und eine Rochade. Aber das waren nur die Regeln. Lf1xb5

Eine erste Ahnung bekam ich bei meinen Großeltern. Im Schrank, verschließbar hinter Glas, neben den teuren Büchern, stand ein angekokelter, weißer Springer.

– „Alles, was uns aus dem Krieg blieb“, sagte mein Opa.

– „Ach Alfred, den werf ich dir noch ins Grab hinterher“, antwortete meine Oma spöttisch.

– „Für unsereinen tut es auch ein Bauer“, sagte mein Opa dann ernst.

Jeden zweiten Donnerstag bekam mein Opa Besuch von Herrn Frisch. Die beiden verschwanden, es war früh am Nachmittag, mit sechs Flaschen Bier im Wohnzimmer und schlossen die Tür. Meine Oma blieb mit mir in der Küche, spülte ab, trocknete ab, putzte, nähte, stopfte und lächelte die ganze Zeit. Ein einziges Mal durfte ich die Spieler stören. Den Anlass habe ich vergessen, aber meine Oma stellte zwei mit gutem Cognac gefüllte Gläser auf eine kleines Tablett und schickte mich ins Wohnzimmer. Ich klopfte beklommen und betrat den vertrauten Raum wie zum ersten Mal. Durch Schwaden von Rauch sah ich Schweißperlen auf der Glatze meines Opas und Herr Frisch, der nie ohne Jackett ging, hatte die Krawatte gelockert.

Sg5-e6

Schach kann Leben retten. Es rettete das Leben von Studienrat B. an meinem Gymnasium. Der wollte Freund sein, statt Lehrer. Kumpel, nicht Pädagoge. Er trug Jeansjacken und ließ Stones-Texte übersetzen. Nahm es mit Hausaufgaben nicht genau und verriet – wenn er Klausuraufsicht hatte – schon mal die Lösung der schwierigsten Aufgabe. Natürlich hätten die Schüler seine Freundlichkeit für Schwäche genommen und ihn in wenigen Jahren vernichtet. Aber jeweils in der letzten Stunde vor den großen Ferien – wenn andere Lehrer Videos zeigten – hieß B. alle Schüler Schachbretter mitbringen. Er ging von Brett zu Brett, spielte gegen 20 oder 25 Schüler simultan und besiegte die ganze Klasse in weniger als 45 Minuten. Der Respekt, den er erntete, brachte ihn übers nächste Jahr.

Einmal – zu vorgerückter Stunde auf einer Abschlussfeier – versuchte eine besonders perfide Abiturientia den schon angetrunkenen Klunker zu überrumpeln. Sie führten ihn in einen Nebenraum, in dem die fünfzehn Besten aus dem Mathe-Leistungskurs hinter aufgestellten Figuren und aufgezogenen Schachuhren saßen. B. lachte, bat um eine Augenbinde und die Schönste des Jahrgangs als Assistentin. Er hätte alle Herausforderer blind besiegt – doch dem Letzten, der sich verzweifelt wehrte, schenkte er großzügig ein Remis.

Td1-d7+

Es gibt mittlerweile eine Frau unter den Top 10 im Weltschach. Und überhaupt immer mehr Schachspielerinnen. Frauen sitzen nicht mehr in der Küche und lächeln. Das finde ich gut. Ich finde auch gut, dass sie nicht meinen, eine Figur mehr auf dem Brett haben zu müssen. Oder immer als Erste ziehen zu dürfen. Nicht beim Schach.

Dg3-g8#

Freund K. und ich, versuchen neuerdings, alle vierzehn Tage eine Verabredung zum Schach einzuhalten. Er beherrscht die Eröffnungsvarianten besser als ich, aber ich bin stärker im Endspiel. Vielleicht erreichen wir gemeinsam ein neues Niveau – so in vier, fünf Jahren. Neulich konnten wir zuerst nicht beginnen, denn ein schwarzer Bauer fehlte. Wir stellten die Wohnung auf den Kopf, aber es war mein Sohn, der die Figur fand. Er hatte sie wohl schon ein paar Minuten im Mund. Im Kopf des Bauern zeichnen sich jetzt deutlich die Abdrücke von zwei kleinen Zähnen ab. Wer weiß, vielleicht besitze ich später irgendwann einmal eine Vitrine. Dann stelle ich mir diesen Bauern hinter Glas.

Fragen zur Springergabel? kolumne@taz.deMONTAG: StefanKuzmany über GONZO