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Archiv-Artikel

Herrenknecht ins Haus der Geschichte

Feiertage eignen sich bestens für Moratorien und Baustopps, findet der Literat Heinrich Steinfest und schlägt der Politik einen Weihnachtsfrieden vor: nach all den Querelen Stuttgart 21 zu den Akten legen, wie es sich für eine volksnahe Demokratie eigentlich gehören würde. Die Österreicher, sagt er, können so was ja auch

von Heinrich Steinfest

Weihnachten, Silvester oder Dreikönig – viele gute Termine. Kürzlich hat der Journalist Christoph Twickel auf Spiegel online den bemerkenswerten Vorschlag gemacht, die Baustelle der Hamburger Elbphilharmonie in eine zeitgenössische Ruine zu verwandeln, also einen ewigen Baustopp zu verfügen. Das Bemerkenswerte daran ist, dass es sich nicht um einen ironischen Beitrag zur Kasperliade deutscher Repräsentationsbauten handelt, sondern vollkommen ernst gemeint ist und dem geneigten Leser den finanziellen und ideellen Nutzen vorrechnet, der sich daraus ergibt, aus der Falle, in die man geraten ist, herauszusteigen, bevor man noch den tiefsten Punkt derselben erreicht hat.

Mitunter kann eben eine Ruine immer noch besser sein als ein mit allen Tricks und Katastrophen irgendwie zu Ende gebautes „Mahnmal“.

Wobei natürlich die Österreicher – wie so oft – schon mal einen Schritt weiter gingen, indem sie ein Atomkraftwerk fix und fertig bauten und sich erst danach im Zuge einer Volksabstimmung (5. November 1978) entschieden, das Ding lieber nicht in Betrieb zu nehmen.

Weil nun aber die Österreicher die Extreme gerne in alle Richtungen treiben, gerne beweisen, dass sie zu allem fähig sind, versuchten sie sechs Jahre später eine weit billigere Variante der „Verhinderung“.

Es war am 22. Dezember 1984, als der damalige österreichische Bundeskanzler Fred Sinowatz einen sogenannten Weihnachtsfrieden verkündete. Dem war die Besetzung der Hainburger Au vorausgegangen, dort, wo die Donaukraftwerke AG plante, ein Wasserkraftwerk zu errichten. Es hatte einen Polizeieinsatz gegeben, Schlagstöcke waren zur Anwendung gekommen, Menschen sind verletzt worden und eine beträchtliche Fläche war – als Demonstration auf die Demonstration – abgesperrt und gerodet worden. Zuvor hatte es sogar Drohungen gegeben, Arbeiter würden in die Au einmarschieren und die „Studenten“ hinaustreiben, die da im Dienste des Naturschutzes Arbeitsplätze gefährdeten.

Aber dann kam eben der Weihnachtsfrieden, die Denkpause, die der sozialdemokratische Kanzler ausrief, auch auf Druck einer Boulevardpresse, die sonst nicht gerade als Hort der Demonstrantenverehrung galt. Jedenfalls mündete der Weihnachtsfrieden gleich einer heilsamen Medikation in weitere „Verfahren der Gesundung“, und schlussendlich erkannte man die hohe Schützenswürdigkeit des umkämpftes Gebiets, welches heute zum Nationalpark Donau-Auen gehört, ohne dass in Österreich die Lichter ausgegangen wären. (Man darf ja auch vielleicht mal sagen, dass wir sowieso schon genug Licht haben und zur Not auch mal auf das eine oder andere verzichten könnten, ohne darum gleich Europa zusperren zu müssen. Sollten wir einst Europa doch zusperren, dann nicht, weil Natur- und Denkmalschutz uns das Licht ruiniert haben.)

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Stimmt, im Falle von Stuttgart 21 hätte ein Weihnachtsfrieden schon Jahre zuvor stattfinden müssen. Und natürlich wird vielen Gegnern die Forderung nach einem Weihnachtsfrieden oder Silvesterfrieden oder Dreikönigsfrieden gar harmlos erscheinen angesichts der derzeitigen Entblößung der Bahn, jetzt, wo jedermann den „nackten Leib“ sehen kann. Beziehungsweise sehen kann, dass da gar kein Leib ist, sondern eine so absolute wie gefräßige Leere. Denn die pure Spekulation ist kein Körper, sondern täuscht ihn nur vor.

Und dennoch soll an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt – da die Bahn einige der Kalendertürchen öffnen musste, die sie so eisern verschlossen hielt – etwas über das Wesen von Denkpausen gesagt sein, die wir Moratorien nennen.

Wie sieht er aus, der größte Schaden, den eine solche „Denkpause“ verursachen könnte? Und zwar mal vom Standpunkt eines heldenhaft in seinen Glauben verstrickten Befürworters. Natürlich, das wäre eine weitere Verzögerung in einem von Verzögerungen geradezu gespickten Projekt. (Wobei man doch bitte nicht so tun möge, als hätten die sogenannten renitenten Rentner mit ihren magischen Fähigkeiten die Unleidlichkeit des Stuttgarter Erdbodens bewirkt oder mittels Telepathie die Planer dazu bewogen, Behinderte und Feuerschutz zu vergessen. Als hätten Parkschützer und „wohlstandsmüde Besserverdiener“ mithilfe sinistrer Alchemie präzise Kalkulationen in ihr Gegenteil verkehrt.)

Doch Schwierigkeiten gehören immer dazu, Zahlen sind Teufel. Und sollte aller Unbill, allen fiskalischen und geologischen Boshaftigkeiten zum Trotz in einer mehr oder weniger fernen Zukunft einmal Stuttgart 21 gebaut sein und die sodann aktiven Honoratioren selbst ein wenig erstaunt sein, diesen aus der Vergangenheit hochtauchenden „modernen Bahnhof“ tatsächlich eröffnen zu dürfen, so würde ein lange zurückliegendes Moratorium an der Freude ob eines solchen Wunders auch nichts ändern. (Wobei dann nur wenige sich noch erinnern würden, dass das politische Einklagen von „Wundern“ – von einem katholischen Ministerpräsidenten ins Spiel gebracht – ursprünglich dem Quorum einer Volksabstimmung gegolten hatte und eben nicht der Fertigstellung eines ungezogenen Bauwerks.) Das „Erstrahlen“ ebendieses Bauwerks, die „Erleuchtung des Erdreichs“, das „Lebendigwerden kühner Ingenieursträume“ würde die Projektgegner, sofern sie dann noch auf der Welt sein würden, ihren Irrtum einsehen lassen, ihren Wahn, ihr eigenes Von-der-Geschichte-überholt-Sein. Ein einstiges Moratorium würde nichts ändern am „Erblühen einer neuen reinweißen City“ und im Zuge vieler Verzögerungen und Schwierigkeiten möglicherweise sogar als wichtiger „Moment der Klärung“ erscheinen. Oder halt bloß als Anekdote in einer an Anekdoten überreichen Geschichte.

Und wie könnte der größte Nutzen aussehen? (Und ist der größtmögliche Nutzen hier nicht viel beträchtlicher als der größtmögliche Schaden?) Es ist bereits ein Topos in der Realität des Lebens wie in der Fiktion der Kunst, dass auf die Frage, warum etwas bestimmtes Schwieriges getan wird, die Antwort lautet: „Weil wir es können!“

Dabei wird aber vergessen, dass dazu nicht nur zählt, auf dem Mars zu landen, stark beschleunigte Teilchen zur Kollision zu bringen, Schafe zu klonen und gewaltige Gebäude zu errichten, sondern auch Fehler einzusehen, einen Rückgang einzulegen, ohne dabei automatisch einen Rückschritt zu erleiden. Das Argument, wenn man etwas Bestimmtes begonnen hat, es auch zu Ende führen zu müssen, ist als schlichtweg primitiv zu bezeichnen. Egal, wie ein Vertrag zustande gekommen ist, egal, ob sittenwidrig oder nicht, die vornehmste Aufgabe der Politik ist es, ein Unglück zu verhindern.

So oft die Politik dem auch zuwiderhandelt, ihre Aufgabe bleibt bestehen. Viele geführte Kriege ändern nichts an der Gottlosigkeit des Krieges, oder? Wenn die Menschheit noch immer nicht untergegangen ist, dann, weil der letztendliche Zweck ein anderer ist. Er besteht nicht im Untergehen, sondern in der Läuterung. Vernunft ist nur ein anderes Wort dafür.

Jetzt, wo im Falle der Stuttgarter Bahnhofsgroteske so viel von dem zuvor nur Angenommenen oder Spekulierten und Hochgerechneten sich zur Tatsache verfestigt, wäre ein Moratorium die letzte Chance, ein Glück von einem Unglück zu unterscheiden. Und kein Vertrag der Welt darf die Politik davon abhalten, eine Katastrophe zu verhindern, wenn sie diese erkennt (und der Himmel stehe denen bei, die die Katastrophe erkennen, aber nicht verhindern).

Richtig, sollte ein Moratorium dazu führen, dass Stuttgart 21 doch nicht gebaut wird, so würden wir nie erfahren, ob nicht doch jene recht hatten, die uns ein neues europäisches Herz versprachen.

Etwas nicht zu erfahren kann überhaupt das größte Glück auf Erden sein. Es ist schöner, nicht zu ertrinken, als später die Erfahrung des Ertrinkens literarisch, bildnerisch oder historisch zu verarbeiten.

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Es stimmt übrigens, man kann nicht so lange Referenden veranstalten, bis man das Ergebnis hat, das man möchte. Es stimmt auch, dass im Rahmen einer VA-Wahlwerbung nicht erwartet werden kann, dass bedenkliche Wahrheiten ans Licht kommen. Übertreibungen und Untertreibungen sind ein normales Mittel jeder Werbung, gleich auf welcher Seite man steht. Das mögen manche beklagen, aber es gehört dennoch dazu. Es ist jedoch etwas ganz anderes, im Rahmen eines Moratoriums, in dem alle „Weisen“ zusammenkommen, ein letztes Innehalten zu ermöglichen, einen Moment, in dem die Wahrheit kristallisiert: keine Schlichtung, kein Wettbewerb der „Meinungen“, sondern die Erfüllung von Ingeborg Bachmanns Diktum Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Denn gleich, welche Konsequenz, welcher Kompromiss oder welches Durchsetzen sodann geschieht, wenn selbige nicht als Folge der Wahrheit zustandekommen, sind sie unbrauchbar. Und nähren nur neues Unglück.

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Zum Schluss noch ein kleiner Vorschlag: Martin Herrenknechts Tunnelbohrmaschine sollte als großzügige Schenkung und vielsagendes Artefakt an das Haus der Geschichte Baden-Württemberg gehen. Dies wäre zwar um einiges weniger dramatisch als die österreichische Variante eines 1:1-AKW-Modells, aber doch sehr viel billiger, und damit – angeblich – typisch schwäbisch.