Überschriebener Klassiker

Theater Wenn Frauen dürfen wollen, was dieser Welteroberer-Held darf: Autor und Regisseur Simon Stone entführt in Hamburg Motive aus Henrik Ibsens „Peer Gynt“ in ein assoziatives Spiel – zwischen Telenovela und David-Lynch-Alptraum

Einmal andersrum sehen dürfen: In Simon Stones „Peer Gynt“ werden aus Ibsens Trollen gruselige Clowns Foto: Markus Scholz/dpa

von Robert Matthies

Ein Skelett bloß, aus vier leuchtenden Röhren: Viel ist nicht übrig von dem Haus, in das sie nach all den Jahren zurückkehrt. Fast fünfzig Jahre ist es her, dass sie als junge, verträumte Hippiefrau ausgebrochen ist aus der Enge von Ehe und norwegischer Provinz. Im Sommer der Liebe hat sie sich auf die Suche gemacht: nach Freiheit, freier Liebe und Selbstverwirklichung. Und den Ehemann und das Babyeinfach zurückgelassen – mit ein paar Litern tiefgefrorener Muttermilch.

Verloren und fehl am Platz wirkt sie nun im Dunkel, eine, die zur Fremden geworden ist; die sich ängstlich und ätherisch wie ein Gespenst ihrer selbst durch das Gespräch mit ihrem ergrauten Gatten tastet: dem Mann, der ihr über all die Jahre hinweg treu geblieben ist und die gemeinsame Tochter groß gezogen hat. Keinen Kern hat sie unter den Zwiebelhäuten finden können, stattdessen zerfrisst sie nach erfolgreicher Architektinnenweltkarriere – nebst unzähliger Liebhaber – nun selbst der Krebs.

Durch die Ruine spukt der Mythos

Viel mehr als ein Skelett ist auch an diesem Drei-Stunden-Abend am Deutschen Schauspielhaus Abend nicht übrig: Henrik Ibsens dramatisches Gedicht „Peer Gynt“ ist nur noch eine Ruine, in der der Mythos herumspukt. Regisseur und Autor Simon Stone, 31 und Australier, den sie derzeit als Hoffungsträger an Europas Bühnen herumreichen, gibt sich nicht damit zufrieden, Theaterklassiker zu aktualisieren: Er „überschreibt“ sie, so nennt er es selbst mit einem neuen Text. Die Essenz, die archetypischen Ideen eines Stücks möchte er destillieren und mit den Bildern seiner eigenen Welt neu zeichnen. Stones Texte entstehen als Work in progress in Auseinandersetzung mit den Schauspieler. Um Werktreue schert er sich dabei nicht sonderlich, spielt stattdessen frei assoziierend und ausdrücklich antiliterarisch mit Motiven, Situationen und Figuren.

So taucht etwa Peer Gynt der Titleheld, als Person in Stones „Überschreibung“ gar nicht mehr auf. Aus der märchenhaften Geschichte vom traumtänzerischen Bauernsohn, der vom unbändigen Freiheitsdrang getrieben auf der Suche nach einem unverwechselbaren Ich-Kern die Welt erobert und wieder verliert, um endlich geläutert und durch die Liebe erlöst zu werden, bastelt Stone ein assoziatives Spiel: Drei namenlose, aus der Rolle gefallene Gynt-Frauen – die Hippie-Großmutter, ihre Karrierefrau-Tochter und eine im Antidepressiva-Delirium herumirrende Enkelin – lässt er inmitten hysterisch-hilfloser Witzfiguren von Männern um ihr Recht auf einen eigenen Peer-Gynt-Komplex ringen: darum, sich wie Männer selbst suchen und dabei auch scheitern zu dürfen, ohne dass daraus ein Skandal wird.

Dass das ein legitimer Zugriff und zulässiger Befreiungsschlag vom „typischen Männerstück“ ist, dafür lässt Stone Ibsen höchstselbst als Gewährsmann auftreten: „Manchmal ist es besser, man sieht die Dinge, wie soll ich sagen, andersrum“, sagt der Dichter im Proszenium und wirft ein gelbes Reclam-Heftchen herunter – seine Theater-Meilenstein. „Wenn du fertig bist“, ruft er der Gynt-Enkelin zu, „dann lies mal rein.“

Netflix und Organspende

Eine feministische Dekonstruktion des norwegischen Nationalepos ist daraus nun auch nicht geworden: Stattdessen hat Stone eine rasante, boulevardeske Familienkomödie geschrieben, irgendwo zwischen Telenovela und David Lynch-hafter Traumerzählung, in schnoddriger Alltagssprache, mit jeder Menge Kalauern und angerechnet mit ausufernden aktuellen Bezügen von Netflix über den „Islamischen Staat“ bis hin zum Thema Organspende.

Da wird etwa aus Peer Gynts Nordafrika-Episode eine Szene in einer heruntergekommenen Expat-Bar in Dubai, in die Stone die von der verhassten Mutter verlassene Hippie-Tochter als vollkommen skrupellose Businessfrau mit ihrem jüngeren, libidogesteuerten Lover hineintorkeln und Karaoke singen lässt. Gerade hat der Scheich, für den sie Raubgut aus der syrischen Ruinenstadt Palmyra vertickt, sie als „Geschäftsmann des Jahres“ ausgezeichnet.

Plötzlich sitzt ihr Vater auf dem Dach der Bar und sinniert über immer wieder auftauchende Muster, die sich erst aus der Distanz betrachtet erkennen ließen, die in Bäumen auftauchten, im Geäder des Auges. So funktionieren Simon Stones Assoziationsketten: Palme über der Oasen-Bar – Palmenoasenstadt Palmyra – Baum. Peer Gynt als vererbte Verheißung und Fluch, dem auch frau nicht entkommt: auch nur so ein Muster.

Man mag darin den von Stone selbst gesetzten gesellschaftskritischen Anspruch vermissen, einen solch unbekümmerten Umgang mit Ibsens Meisterwerk für zu leichtfertig halten, für eine ärgerliche Verflachung. Aber wenn man sich auf die schnoddrig-knallige Entführung des Themas einlässt, dann erlebt man einen schlüssig erzählten und erfrischend kurzweiligen Abend, der nicht nur immer wieder gelungene neue Bilder für bekannte Motive findet, sondern inmitten des mitunter hektischen Spiels eines virtuosen Ensembles gegen Ende auch immer mehr Platz für leisere Töne findet.

Und das Recht, das man Peer Gynt zugesteht, das muss doch auch ein Theaterstück haben: sich selbst suchen, scheitern, Fehler machen, dumme Dinge sagen und tun – ohne dass alle sofort rufen: Jetzt muss ich mir ums Theater aber wirklich Sorgen machen.

Sa, 27.3., 18 Uhr, Hamburg, Deutsches Schauspielhaus. Weitere Aufführungen: 2., 13. + 30.4.

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