Press-Schlag: Zerrissene Traditionen
ABSTIEG Die Traditionsklubs aus Frankfurt und Hannover haben am Samstagabend im direkten Kellerduell den Kampf um die rote Laterne entschieden (1:0 durch ein irreguläres Tor). Soweit jedenfalls die Tradition. Wie es wirklich um derlei Sportjournalismusklischees und anderes Althergebrachtes steht, erfahren Sie hier
Der Fremdwörterduden übersetzt „Tradition“ unter anderem mit „Brauch“ und „Gewohnheit“. Ein „Traditionsklub“ ist also daran zu erkennen, dass er halt da ist. Seine Anwesenheit in der höchsten Spielklasse des heimischen Männerfußballs gilt vor allem als Brauchtumspflege, so wie das Torwandschießen beim „Aktuellen Sportstudio“. Doch, ach, die alten Zeiten, sie kommen nie wieder! Obgleich man sich einredet, sie seien noch gar nicht vorbei.
Jedenfalls haben vor dem Spiel von Eintracht Frankfurt gegen Hannover 96 am Samstagabend nicht bloß die Supporter der beiden Teams bekundet, eine Bundesliga ohne die „Traditionsklubs“ sei unvorstellbar. Frankfurts neuer Cheftrainer Niko Kovačverbat sich zwar, von einem „Schicksalsspiel“ zu raunen. Aber wenn der Sport seine eigene Geschichtlichkeit beschwört, dann kommen stets irgendwelche höheren Mächte ins Spiel, entscheiden die Parzen die Partie, wacht der Fußballgott über alles und verlangt der Fan nach mystischen Erfahrungen im Kollektiv.
Die Marketingabteilung der Eintracht hat dies gut erkannt und die Imagekampagne „Auf jetzt!“ gestartet. Da setzt es Appelle und Rütlischwüre wie vor einer Schlacht: „Auf jetzt! Eintracht. Auf jetzt! Kämpfen. Auf jetzt! Zusammenhalten.“ Auf jetzt! Kotzen.
Nee, so geht’s weiter: „(In) der Stadt und der Region stehen ALLE hinter Profi-Trainer Niko Kovačund seinem Team.“ Solche Verbrüderungsbefehle sind in etwa so rational wie ein Regentanz. Doch gerade als Fußballnarr ist der Mensch anfällig für Aberglauben und oft leider auch für diesen dumpfen Volksgemeinschaftston.
Dass keine Tradition ewig hält, weiß jeder Fan, der nicht mehr in Klub-Bettwäsche nächtigt. Und Vergänglichkeit hat auch was Gutes: Irgendwann, vielleicht schon in diesem Jahr, wird es keine Tradition mehr sein, dass der HSV sich durch die Relegation duselt. Einst wird kommen eine Saison, in welcher der FC Bayern nur auf Platz zwei landet. Und sogar die Reportertradition, in Fällen wie dem Duell Frankfurt-Hannover von einem „Sechs-Punkte-Spiel“ zu quaken, wird einmal zu Ende gehen. Nein, nicht weil die Reporter der Zukunft besser in Mathe aufgepasst haben werden, sondern weil nichts im Fußball so flüchtig ist wie seine durch Tradition vermeintlich geheiligten Regeln.
Die Frankfurter Fans müssen sich übrigens nicht ganz so sehr grämen wie die Hannoveraner, sollte es mit der Tradition am letzten Spieltag, dem 14. Mai, passé sein. Gleich zwei sehr bedeutende deutsche Schriftsteller, Eckhard Henscheid und Ror Wolf, haben der Eintracht literarisch zu einer Ewigkeit verholfen, die weit über jeden Brauch hinausragt. Besonders Wolfs poetische Beschäftigung mit Eintracht Frankfurt wird alle Abstiege, egal wie tief, egal wie oft, überdauern. Und es macht erheblich mehr Spaß, diese Meisterstücke zu lesen, als in doofer Tradition weitere 57 Jahre auf einen Meistertitel für Frankfurt zu warten.
Doch wer weiß? Vielleicht ist die Feder mächtiger als das „Damoklesschwert des Abstiegs“ (Badische Zeitung), und die Eintracht kann gar nicht untergehen, weil dies Herrn Wolf missfiele? Das ist auf jeden Fall eine lyrischere Erklärung für das glückliche 1:0 der Frankfurter als die traditionell blutrünstige von Trainer Kovač: „Jeder hat sich zerrissen.“ Kay Sokolowsky
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