kabinenpredigt
: Sarah-BSC

Ach, solche Meldungen liebe ich einfach: 71 Minuten Aussprache soll es nach der Kritik Marcelinhos an der Restmannschaft von Hertha gegeben haben. Genau 71 Minuten! Und alle nehmen das hin, als wäre es das Normalste der Welt. Dabei sprechen wir doch hier nicht über Psychologiestudenten oder Frauen. Da würden 71 Minuten natürlich wie im Fluge vergehen. Aber hier es geht um Fußballer. Ein Ding der Unmöglichkeit, dass die über eine Stunde in ihrer Kabine sitzen und reden! Miteinander! Wie soll das denn zusammenpassen? Ich versuche es mir seit Tagen vorzustellen und bleibe doch immer an der einzigen Möglichkeit hängen, die mir realistisch vorkommt. Das muss in etwa so gewesen sein wie erzwungene Aussprachen im Kindergarten. Da kann ich mich noch gut dran erinnern. Der Erzieher, hier „Trainer“ genannt, zwingt die streitenden Kinder an den Tisch: So, es gibt solange keinen Nachtisch, bis Marcelo, Arne und Josip sich wieder vertragen haben. Jeder sagt jetzt, was eigentlich los war. Wer fängt an? Die Kinder schweigen und schon sind gute zehn Minuten vorbei. Thorben fängt an, Kevin unter dem Tisch zu treten. Der heult erst auf und gibt dann Christian eine Kopfnuss. Der Erzieher seufzt, setzt die Streithähne auseinander, droht noch mal, allen Schokoladenpudding alleine zu essen, wenn die Jungs jetzt nicht anfangen. Also, Marcelo, was denkst du? Marcelo erbarmt sich des Erziehers und sagt: Arne ist doof! Josip, der beste Freund von Arne, geht ohne Umschweife auf Marcelo los und knallt ihm eine. Alle anderen machen mit, nur Dick nutzt die Aufregung um sich in die Küche zum Pudding zu schleichen. Praktikant Andi schleift ihn zurück, alle sitzen wieder im Kreis, nur Niko nicht, der hat sich in die Hosen gemacht. Erzieher Falko schaut auf die Uhr, schon eine Stunde sitzen sie hier, in zehn Minuten kommen die Eltern, ihre Sprösslinge abholen, und auch er will jetzt Feierabend haben. So, wir machen das jetzt folgendermaßen: Marcelo, Arne und Josip geben sich die Hand und dann ist wieder gut. Los! Niemand reagiert, bis Marcelo die Augen verdreht und widerwillig seine Hand anbietet. Josip versucht sie zu ergreifen, Marcelo zieht sie im letzten Moment zurück, alle anderen kichern. Die anderen Jungs wollen jetzt Pudding und zwingen die drei, sich beieinander zu entschuldigen. Drei Hände schlagen aufeinander, dann rennen alle los zum Pudding. Der Erzieher ist von seinem Beruf noch weniger als sonst überzeugt, weiß aber um die Situation auf dem Arbeitsmarkt und verbucht das Ganze als Erfolg. Den Eltern erzählt er von einem reinigenden Gewitter, und auf dem Heimweg glaubt er schon fast selber dran. So muss es sein, wenn Fußballer gezwungen werden, ganze 71 Minuten miteinander zu sprechen.

SARAH SCHMIDT