DIE CHAMPAGNERFLASCHE
: Mensch, Charlotte

Das Mädchen ist sehr aufgeregt. Ihr brauner Steppmantel flattert

Ich warte in Lichterfelde West auf die S-Bahn, neben mir steht ein kleines Mädchen mit ihrem Vater oder Opa, der sie gerade von der Schule abgeholt hat. Sie ist vielleicht acht oder neun und plappert ganz aufgeregt und fummelt sich dabei immer wieder die langen, blonden Haare hinter die Ohren. „Und dann kommen wir so nach Hause, und im Garten liegt eine Champagnerflasche auf dem Boden, von so ’ner Marke, weiß nicht wie die heißt, aber genau die gleiche Marke, die Mama immer bestellt. Hab ich gleich erkannt.“ War die Flasche voll oder leer, fragt der Papa oder Opa. „Leer!“, ruft die Kleine, „und ich bin natürlich sofort nach oben gerannt und hab ins Regal geguckt, und da standen nur noch fünf Flaschen, und Mama hatte sechs bestellt, ganz sicher, und noch keine aufgemacht. Da hab ich sie gleich angerufen, natürlich.“

Die S-Bahn kommt, wir steigen ein. Es ist ziemlich voll, man muss stehen. Das Mädchen ist sehr aufgeregt. Ihr brauner Steppmantel flattert, weil sie beim Reden mit den Armen wedelt wie ein aufgeregtes Vögelchen. „Und Charlotte hat gesagt, dass sie das nicht war, klar sagt sie das, aber dann kam raus, dass sie es in echt doch war. Das passt ja auch zu ihr, wirklich. Sie ist ja eh immer so faul und bringt nie den Müll raus oder räumt mal den Tisch ab oder so.“ Ja, sagt der Papa oder Opa, Charlotte war schon immer etwas faul. „Und dann lässt sie auch noch die Flasche einfach rumliegen, weißt du, auf dem Boden, im Garten, wie so ein Assi! Das ist doch der Knaller, oder?“ Ja, sagt der Papa oder Opa. Die Kleine schnaubt: „Ja, oder? Wie ein Assi, wie ein richtiger Assi!“ Sie schüttelt den Kopf, der Papa oder Opa guckt aus dem Fenster. „Da dachte ich mir nur so“, endet die Kleine, „Charlotte, Charlotte, also Mensch, Charlotte!“

Sie steigen in Steglitz aus. Meine innere Schnapsdrossel liegt vor Lachen auf dem Boden. MARGARETE STOKOWSKI