: Afrikanischer Albtraum
In Zentralafrika entwickeln sich Privatarmeen, meist geführt von Kriegsverbrechern, zu Staaten im Staate. Ein Eingreifen der Weltgemeinschaft ist dringender denn je
Es hätte eine Sternstunde der Weltpolitik sein müssen: die Ausstellung der ersten weltweiten Haftbefehle gegen Kriegsverbrecher durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Aber was auf dem Papier der Ankläger wie ein Meilenstein im internationalen Kampf gegen Völkermord und Straflosigkeit aussieht, gestaltet sich in der Realität als groteske Tragödie.
Fünf Führer der verrufenen „Widerstandsarmee des Herrn“ (LRA) aus dem Norden Ugandas sollen in Den Haag vor Gericht kommen – fünf Führer einer Bewegung, deren Mischung aus religiös verbrämtem Führerkult und unvorstellbarer Grausamkeit selbst in den Dauerkriegsgebieten Afrikas eine finstere Ausnahme darstellt. Die LRA praktiziert die Zerstörung der Gesellschaft als Kriegsziel, entführt systematisch Kinder zu zehntausenden und scheint es als Erfolg anzusehen, dass im Norden Ugandas nach zwei Jahrzehnten Terror eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der Welt herrscht. Es müsste eine Selbstverpflichtung der internationalen Gemeinschaft sein, die Verantwortlichen zu bestrafen.
Nichts dergleichen geschieht. Wo LRA-Führer Joseph Kony sich aufhält, ist unbekannt. Vermutlich ist er in Sudan, wo er mittels der Protektion dortiger Militärmachthaber erst seine Bewegung zu einer hochgerüsteten Kampftruppe aufpäppeln konnte. Sein Stellvertreter Vincent Otti soll sich aus Sudan in die Demokratische Republik Kongo zurückgezogen haben. Die LRA ist nun also mit Uganda, Sudan und Kongo über drei Länder verteilt, deren Regierungen sich untereinander nicht vertragen. Sie operiert in einem Dreiländereck, wo seit Jahrzehnten Krieger und Schmuggler den Ton angeben.
Das Chaos, das die Jagd auf die LRA produziert, grenzt ans Lächerliche. Kongos Regierung behauptet, mit einer machtvollen Militäroperation die Rebellen zurück nach Sudan getrieben zu haben. Die UN-Vertreter im Land glauben ihr unter Berufung auf die Zivilbevölkerung. Diese so machtvolle Militäroperation bestand jedoch darin, dass bewaffnete Männer entsandt wurden, die sich als Soldaten einer noch nicht existenten kongolesischen Regierungsarmee bezeichneten. Unter dem Vorwand, LRA-Kämpfer zu suchen, bestritten sie ihren Lebensunterhalt in nordostkongolesischen Dörfern zumeist mit vorgehaltener Waffe. Kaum verwunderlich, wenn da die Dorfbewohner sagen, die LRA-Schergen seien längst weg und die Soldaten mögen doch bitte wieder gehen. Kongo und Uganda, das im Südsudan Truppen zur Jagd auf die LRA stationiert hält, haben jetzt einen Informationsaustausch vereinbart. Aber gemeinsam handeln – soweit reicht das Vertrauen nicht.
Weiter südlich spielt sich ein nicht minder kriminelles Spektakel ab. Die Hutu-Milizionäre aus Ruanda wüten ungestraft in den Bergen und Wäldern der kongolesischen Kivu-Provinzen und begehen Massaker an Zivilisten. Seit zehn Jahren terrorisieren sie den Osten des Kongo und werden zum Teil von Tätern des ruandischen Völkermordes von 1994 geführt. Durch ihr Tun sorgen sie dafür, dass die regionale Kriegsdynamik im Afrika der Großen Seen bestehen bleibt. Ruanda sieht in ihrer bloßen Anwesenheit einen Grund, der zum Eingreifen berechtigt.
Im Ostkongo stehen zwar tausende gut ausgerüsteter UN-Soldaten, darunter Kampftruppen aus Pakistan und Spezialeinheiten aus Guatemala. Die UNO hat gemeinsam mit Kongos Regierung den Milizen ein Ultimatum gestellt, die Waffen zu strecken und friedlich nach Ruanda zurückzukehren. Doch die potenzielle Stärke der UN-Truppen scheint niemanden zu überzeugen. Das Ultimatum ist Ende September verstrichen. Seitdem haben die Milizen ihre Angriffe verstärkt. Die UN lehnen einen Militärschlag ab. Kongos im Aufbau befindliche Armee ist dazu sowieso nicht in der Lage.
Während die Jäger von Ugandas LRA-Rebellen sich immerhin auf ihr Unwissen berufen können, gilt dies im Falle der ruandischen Hutu-Milizen im Kongo nicht. Ihre militärischen Führer haben seit ihrer Flucht aus Ruanda in den Militärstäben diverser zentralafrikanischer Länder gedient und ihre Fähigkeiten zum totalen Vernichtungskrieg exportiert. Ihre politischen Führer leben meist in westlichen Industrieländern im Exil; ihre politische Bewegung FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) wurde in Deutschland gegründet, wo auch FDLR-Chef Ignace Murwanashyaka lebt. Er und seine Kollegen reisen ungehindert zwischen Europa und Kongo hin und her. Deutschland und auch andere Länder wie Belgien und Frankreich, wo auch noch gesuchte Täter des ruandischen Völkermordes leben, gewähren dabei politischen Schutz.
Die LRA und die FDLR unterhalten mittlerweile zwei der stärksten Armeen Zentralafrikas. Sie sind keinem Staat zuzuordnen, aber sie werden von staatlichen Akteuren gefördert und als informelle Reservearmeen zum Einsatz gegen missliebige Nachbarstaaten in Bereitschaft gehalten. Kongo und Sudan befinden sich derzeit in entscheidenden Stadien von Friedensprozessen. Doch ihre Allparteienregierungen sind von tiefem gegenseitigen Misstrauen geprägt. Viele Politiker horten daher vorsorglich schon einmal neue Vorräte an Waffen und Geld und nehmen Bürgerkriegskämpfer unter Vertrag. Als Selbstschutz einzelner Personen ist das rational zu verstehen, aber wenn jeder Politiker neben den formellen staatlichen Machtstrukturen noch private informelle Machtstrukturen unterhalten kann, ist das Scheitern des Friedens programmiert.
Daher ist die Jagd auf Ugandas Rebellen und die Zerschlagung der politischen Strukturen von Ruandas Völkermordtätern nicht nur ein Gebot des Kampfes gegen Straflosigkeit, sondern auch eines der Befriedung Afrikas. Es droht in Zentralafrika das dauerhafte Entstehen rechtsfreier Räume, Schattenstaaten mit parallelen Militärapparaten, von denen aus jeder Fortschritt im Rest der Region sabotiert werden kann. Die internationale Afrikapolitik zeigt sich dieser Gefahr nicht gewachsen, obwohl sie nicht neu ist. Bereits in den 90er-Jahren ging Somalia diesen Weg. Wenn Kongo und Sudan, zwei der größten Länder Afrikas, das auch tun, erlischt jede Hoffnung auf Stabilität und Aufschwung auf dem Kontinent.
Es kann deshalb nicht sein, dass Sudan und Kongo weiterhin Milliardenhilfen kriegen, während zugleich niemand darauf achtet, wem die Empfänger dieser Hilfen damit selbst alles helfen. Die Ergreifung der ugandischen LRA-Führer zwecks Überstellung nach Den Haag müsste zur Bedingung jeder weiteren finanziellen und politischen Unterstützung Sudans und auch jedes anderen Landes gemacht werden. Auch die ruandischen FDLR-Führer dürfen keine Duldung mehr genießen, weder im Kongo noch im Rest der Welt. Beides ist Bedingung dafür, dass die internationale Gemeinschaft selbst eingreifen kann, um die Strukturen von Terror und Willkür zu zerschlagen. Notfalls auch gegen den Willen der betroffenen Regierungen – aber mit Unterstützung der betroffenen Bevölkerung. Das würde neue Möglichkeiten zu einer selbstbestimmten friedlichen Entwicklung öffnen. DOMINIC JOHNSON